Von Zwängen beherrscht – Wenn man nicht anders kann

 

Fast jede*r verfügt über so manchen Tick, der vielleicht merkwürdig anmutet. Entspricht diese Eigenart jedoch nicht mehr dem Normalniveau und verursacht sie noch dazu einen Leidensdruck, dann könnte sich dahinter eine Zwangsstörung verbergen.

Die Hände waschen, kontrollieren, ob der Herd wirklich ausgemacht wurde, Magazine sammeln. Diese und viele weitere Handlungen begegnen uns im Alltag des Öfteren und sind auch nicht weiter besorgniserregend, denn „Rituale und Routinen sind lebensnotwendig und erleichtern das Zusammenleben“1, wie die am Wiener AKH tätige Psychologin Ulrike Demal erläutert. Wenn Tätigkeiten oder Gedanken aber ein exzessives Ausmaß annehmen und auf den gewohnten Alltag gleichzeitig massiv einschränkend wirken, sollte man genauer beobachten, ob sich dahinter nicht eine psychische Erkrankung verstecken könnte.

Von Zwängen dominiert

Zwangsstörungen zählen heutzutage nämlich zu den häufigsten psychischen Erkrankungen im Erwachsenenalter,2 und alleine in Österreich erkranken geschätzt 2 bis 3 % der Bevölkerung – etwa 200.000 Menschen – im Laufe des Lebens an dieser Krankheit.3 Doch wodurch genau kennzeichnen sich Zwangsstörungen im Detail?

Eine Zwangsstörung liegt dann vor, wenn Betroffene immerfort von bestimmten Gedanken, Bildern oder Ideen geplagt werden oder das ständige Bedürfnis verspüren, Handlungen in wiederkehrendem und einem extremen Ausmaß durchzuführen.4 „Krankhaft werden fixe Routinen und Zwänge […] dann, wenn Betroffene einen Leidensdruck verspüren und sich in ihrem Leben beeinträchtigt fühlen“5, so Demal erklärend. Unterschieden wird, wie bereits angedeutet, zwischen zwanghaften Handlungen und Gedanken.

Bei Zwangshandlungen fühlen sich Betroffene dazu gedrängt, bestimmte Verhaltensweisen aus Angst vor einer möglichen Katastrophe laufend zu wiederholen. Dabei wissen sie jedoch, dass die ständige Kontrolle keinen Sinn erfüllt und auch übertrieben ist.6 Am häufigsten sind die sogenannten Kontrollzwänge, die in vielen Fällen Männer betreffen, während Frauen meistens an Wasch- und Reinigungszwängen leiden.7 Von den Zwangshandlungen zu unterscheiden sind Zwangsgedanken: Betroffene entwickeln dabei ungewollt Ideen mit meist aggressivem oder sexuellem Inhalt8 oder werden immerfort von Bildern zu nahenden Katastrophen heimgesucht.9 Viele dieser Zwangsgedanken stehen dabei im völligen Kontrast zu den persönlichen Wertvorstellungen, weswegen mit ihnen auch ein verstörendes Gefühl, Ekel oder Anspannung einhergeht,10 die Gedanken aber dennoch nicht unterdrückt werden können.11 Und wie genau fühlt es sich an, wenn man von den Zwängen beherrscht wird und einfach nicht anders kann?

Intensive Einblicke in seinen Alltag gibt der an Kontrollzwängen leidende Michael: Zwei bis vier Stunden täglich muss er für diverse ‚Kontrollen‘ aufwenden. Und ihm ist dabei auch bewusst, dass dies keinem angemessenen Ausmaß entspricht: „Ich bin jemand, der sehr logisch denkt. Und umso schlimmer ist es für mich, dass der Zwang teilweise unlogisch ist. Und ich bin mir eigentlich bewusst, dass diese Gedanken unsinnig oder unlogisch sind“12, wie er erläutert. Beherrscht wird er von seinen Gedanken, denn wenn er seine Kontrollen nicht lange genug durchführt, dann könnte etwas Schreckliches passieren: „[…] Das Gefühl der Angst, der Unsicherheit ist einfach so groß, dass ich letztendlich einbreche. Ich suche eben diese 100 Prozent Sicherheit, die es aber in der Realität nicht gibt, und da reicht ein Prozent Unsicherheit, dass ich wieder zum Kontrollieren anfange“13, so seine Erklärung für den Zwang. Doch wie kommt es eigentlich zu einer solchen Zwangsstörung?

Eine Krankheit ohne genauen Ursprung

Bis heute ist noch nicht eindeutig geklärt, warum Menschen eine Zwangsstörung entwickeln. Ausgegangen wird jedoch davon, dass viele Faktoren den Ausbruch der Krankheit begünstigen: Neben einer möglichen Vererbung gibt es auch Hinweise auf Auffälligkeiten im Gehirnstoffwechsel, nämlich eine neuronale Überaktivität in bestimmten Regionen des Gehirns, welche bei gesunden Menschen nicht beobachtet wird. Des Weiteren können erlebte Traumata in der Kindheit sowie einschneidende Erlebnisse wie sexueller Missbrauch Zwangsstörungen auslösen.14

Häufig treten Zwangsstörungen zusammen mit anderen psychischen Erkrankungen auf, beispielsweise mit Depressionen, Panikstörungen, sozialen Phobien, Persönlichkeitsstörungen, körperdysmorphen Störungen, dem Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom, mit posttraumatischen Belastungsstörungen oder gemeinsam mit Essstörungen.15

Ebenso begünstigen bestimmte Persönlichkeitsmerkmale wie ein ausgeprägter Perfektionismus oder ein hohes Verantwortungsbewusstsein das Entstehen von Zwangsstörungen.16 Auch allgemeine Ängstlichkeit, Schüchternheit oder ein zu geringes Durchsetzungsvermögen könnten zur Entwicklung von Zwängen führen.17 Und wenn diese schließlich so stark ausgeprägt sind, sodass der normale Alltag nicht mehr uneingeschränkt bestritten werden kann, muss Hilfe in Anspruch genommen werden.

Eine Verhaltenstherapie führt zur Linderung der Symptome.

Liegt der Verdacht vor, an einer Zwangsstörung erkrankt zu sein, so sollte man sich zunächst an die/den Hausärzt*in wenden, die/der sodann an weitere Stellen verweisen kann, so an Psychotherapeut*innen, Ärzt*innen mit Weiterbildung in psychotherapeutischer Medizin oder an Fachärzt*innen für Psychiatrie und Psychotherapie.18 Durch die häufig kombinierte Behandlung aus medikamentöser Therapie und Verhaltenstherapie klingen die Symptome zwar nicht vollständig ab, aber zumindest können sie erfolgreich gelindert werden. Der in Münster tätige Psychologe Thomas Hillebrand erklärt nämlich, dass mittlerweile eine Symptomreduktion von etwa 70 % erzielt werden könne, bei einigen Patient*innen sogar 90 %.19

Und Michael ist sich dessen bewusst, dass der Kontrollzwang trotz Therapie ständiger Begleiter sein wird, jedoch in einem nicht mehr alltagseinschränkenden Ausmaß: „Ich glaube, eine komplette Heilung ist relativ unwahrscheinlich. Aber es ist schon möglich, dass man die Zwänge soweit runterbekommt, dass man damit gut leben kann“20.

Auch wenn gemäß den Ausführungen ein vollständiges Verschwinden der Symptome sehr unwahrscheinlich ist, so sollte bei einer gegebenen Zwangsstörung doch professionelle Hilfe in Anspruch genommen werden. Nur auf diese Art und Weise kann gezielt gegen die Erkrankung vorgegangen und eine Symptomreduktion erreicht werden. Im Vordergrund steht, dass der Alltag nicht mehr von Zwängen beherrscht wird, Ängste, die mit den entsprechenden Handlungen bzw. Gedanken in Verbindung stehen, bekämpft werden und im Generellen Kontrolle über das eigene Verhalten zurückerlangt wird.

 


1 Bayer, Florian: Zwangsstörungen: Wenn man keine Wahl hat. In: derstandard.at. Veröffentlicht am 27.02.2014.
URL: https://www.derstandard.at/story/1376534966011/zwangsstoerungen-wenn-man-keine-wahl-hat [Stand: 22.07.2021].

2 Vgl. Schön Klinik: Zwangsstörungen. Veröffentlicht am 11.05.2020.
URL: https://www.schoen-klinik.de/zwangsstoerungen [Stand: 22.07.2021].

3 Vgl. Ö1: Zwangsstörungen. In: oe1.orf.at. Veröffentlicht am 08.04.2017.
URL: https://oe1.orf.at/artikel/216533/Zwangsstoerungen [Stand: 22.07.2021].

4 Vgl. Öffentliches Gesundheitsportal Österreichs: Zwangsstörung: Was ist das? Aktualisiert am 14.06.2017.
URL: https://www.gesundheit.gv.at/krankheiten/psyche/neurose/zwang-was-ist-das [Stand: 22.07.2021].

5 Bayer, Florian: Zwangsstörungen: Wenn man keine Wahl hat.
URL: https://www.derstandard.at/story/1376534966011/zwangsstoerungen-wenn-man-keine-wahl-hat [Stand: 22.07.2021].

6 Vgl. Abel-Wanek, Ulrike: Wenn >>AHA<< die Regel ist. In: pharmazeutische-zeitung.de. Veröffentlicht am 24.01.2021.
URL: https://www.pharmazeutische-zeitung.de/wenn-aha-die-regel-ist-123149/ [Stand: 22.07.2021].

7 Vgl. Schiele, Christian: Wie es sich anfühlt, mit Zwangsstörungen zu leben. In: br.de. Veröffentlicht am 29.04.2021.
URL: https://www.br.de/radio/bayern2/wie-es-sich-anfuehlt-mit-zwangsstoerungen-zu-leben-100.html [Stand: 22.07.2021].

8 Vgl. Abel-Wanek, Ulrike: Wenn >>AHA<< die Regel ist.
URL: https://www.pharmazeutische-zeitung.de/wenn-aha-die-regel-ist-123149/ [Stand: 22.07.2021].

9 Vgl. Schön Klinik: Zwangsstörungen. Veröffentlicht am 11.05.2020.
URL: https://www.schoen-klinik.de/zwangsstoerungen [Stand: 22.07.2021].

10 Vgl. Abel-Wanek, Ulrike: Wenn >>AHA<< die Regel ist.
URL: https://www.pharmazeutische-zeitung.de/wenn-aha-die-regel-ist-123149/ [Stand: 22.07.2021].

11 Vgl. Öffentliches Gesundheitsportal Österreichs: Zwangsstörung: Was ist das?
URL: https://www.gesundheit.gv.at/krankheiten/psyche/neurose/zwang-was-ist-das [Stand: 22.07.2021].

12 Schiele, Christian: Wie es sich anfühlt, mit Zwangsstörungen zu leben.
URL: https://www.br.de/radio/bayern2/wie-es-sich-anfuehlt-mit-zwangsstoerungen-zu-leben-100.html [Stand: 22.07.2021].

13 Schiele, Christian: Wie es sich anfühlt, mit Zwangsstörungen zu leben.
URL: https://www.br.de/radio/bayern2/wie-es-sich-anfuehlt-mit-zwangsstoerungen-zu-leben-100.html [Stand: 22.07.2021].

14 Vgl. Abel-Wanek, Ulrike: Wenn >>AHA<< die Regel ist.
URL: https://www.pharmazeutische-zeitung.de/wenn-aha-die-regel-ist-123149/ [Stand: 22.07.2021].

15 Vgl. Schön Klinik: Zwangsstörungen.
URL: https://www.schoen-klinik.de/zwangsstoerungen [Stand: 22.07.2021].

16 Vgl. Ö1: Zwangsstörungen.
URL: https://oe1.orf.at/artikel/216533/Zwangsstoerungen [Stand: 22.07.2021].

17 Vgl. Schön Klinik: Zwangsstörungen.
URL: https://www.schoen-klinik.de/zwangsstoerungen [Stand: 22.07.2021].

18 Vgl. Öffentliches Gesundheitsportal Österreichs: Zwangsstörung: Diagnose & Therapie. Aktualisiert am 14.06.2017.
URL: https://www.gesundheit.gv.at/krankheiten/psyche/neurose/zwang-diagnose-und-therapie [Stand: 22.07.2021].

19 Vgl. Abel-Wanek, Ulrike: Wenn >>AHA<< die Regel ist.
URL: https://www.pharmazeutische-zeitung.de/wenn-aha-die-regel-ist-123149/ [Stand: 22.07.2021]

20 Schiele, Christian: Wie es sich anfühlt, mit Zwangsstörungen zu leben.
URL: https://www.br.de/radio/bayern2/wie-es-sich-anfuehlt-mit-zwangsstoerungen-zu-leben-100.html [Stand: 22.07.2021].

Bildhinweis: Adobe Stock

Veröffentlicht am: 01.09.2021