Stabile Lebensverhältnisse auch in unsicheren Zeiten
Wir alle wünschen uns Beständigkeit im Leben, beispielsweise in den Bereichen Familie oder Job. Doch unaufhaltsame und laufende Veränderungen unterbinden immer wieder eine längerfristige Konstanz, weswegen sich die Frage stellt, ob und wie diese Kontinuität überhaupt erzielt werden kann.
Speziell in den vergangenen Jahren kam in unserem Alltag häufiger das Gefühl der Sicherheit und Stabilität abhanden: Die Corona-Pandemie bedeutete für viele einen markanten Einschnitt in die gewohnte Lebensweise sowie eine negative Einflussnahme auf die routinierte Alltagsbewältigung, die brodelnden politischen Krisenherde und angespannten wirtschaftlichen Situationen weltweit sorgen für Besorgnis bis hin zu ängstlicher Verstimmung und die zunehmenden Wetterextreme fordern uns alle ununterbrochen. Immer öfter stellt man sich deswegen auch zwangsläufig die Frage: Wie geht es weiter? Womit muss noch gerechnet werden? Kann es in Zukunft überhaupt besser werden?
Fehlende Sicherheit führt zu psychischer Instabilität
Wegen all dieser globalen aufwühlenden Ereignisse hat auch das allgemeine Gefühl nach sicheren und stabilen Lebensverhältnissen stark gelitten. Fehlende Beständigkeit im Alltag sowie generelle Verunsicherung in Bezug auf die Zukunft haben nicht zuletzt auch bedeutenden Anteil am markanten Anstieg an psychischen Belastungen/Erkrankungen: Die Pandemie alleine hat bisher dazu geführt, dass sich Angsterkrankungen und Depressionen vervier- bis verfünffacht haben – Ende des Jahres 2020 ging man von etwa 25 % aller Österreicher*innen aus, die betroffen waren oder es nach wie vor sind.1 Und noch während mit den Folgen der Pandemie für die menschliche Psyche gekämpft wird, gehen Bilder des Ukraine-Krieges um die Welt – Ängste und Trauer bleiben somit wesentliche Alltagsbegleiter, womit eine gewisse Sicherheit ausbleibt.
Dabei wird alleine schon der Alltag von zahlreichen Sorgen mitbestimmt, die den Wunsch nach Konstanz größer werden lassen: Verfügt man über ein stabiles Jobverhältnis? Sind die Einnahmen ausreichend, um menschliche Grundbedürfnisse wie Wohnen oder Essen gut stillen zu können? Kann man auf ein zuverlässiges soziales Netzwerk zurückgreifen? Denn diese Faktoren sind wesentlich für stabile Lebensverhältnisse und damit auch unabdingbar für das psychische Wohlbefinden.
Obwohl wir nach anhaltender Sicherheit im Leben streben, unterliegen wir gemäß den Ausführungen dennoch fortwährenden und unaufhaltsamen Veränderungen. Zwar können diese auch bewusst herbeigeführt werden, so beispielsweise in Form eines Jobwechsels, dennoch „wissen wir nie sicher, was nach der Veränderung kommt. Geht alles gut? Was passiert, wenn ich…? Habe ich an alles gedacht?“2, wie die deutsche Familientherapeutin Birgit Salewski beispielhaft erklärt. Und dieses ‚sich-über-die-Zukunft-Gedanken-machen‘ lässt auch immer das Sicherheitsempfinden schwanken, damit nicht zuletzt auch unser psychisches Wohlgefühl.
Nicht nur das Grübeln über neue Lebensabschnitte sorgt in diesem Fall für allgemeine Besorgnis dahin gehend, was noch kommen mag, sondern auch das eigentlich wertvolle Gut, heutzutage vielerlei Entscheidungsmöglichkeiten zu haben: Soll ich meinen derzeitigen Job, der mir Spaß macht, kündigen zugunsten einer besser bezahlten Arbeitsstelle, die womöglich Aufgabenfelder mit sich bringt, welche mir keine Freude bereiten könnten? Der deutsche Soziologe Heinz Bude bringt dieses Dilemma auf den Punkt: Weil wir in unserer Entscheidung für oder gegen eine Veränderung frei seien, bleibe immer die Qual der Wahl.3 „Es hängt heute mehr denn je von jedem Einzelnen ab, ob er in Wohlstand, Gesundheit, vielleicht sogar Zufriedenheit lebt. […] [A]ber die Angst, eine falsche Wahl zu treffen, ist größer als die Freude an der Vielfalt der Möglichkeiten“4. Weil der kollektive Gedanke eines ständigen Vorankommens im Vordergrund stehe, würden sich viele dem nicht gewachsen fühlen, so Bude5. „Die Menschen spüren das Verlangen nach Werten, die Halt bieten und sich nicht sofort wieder auflösen“6.
Ist anhaltende Beständigkeit damit ein Trugschluss?
Und so scheinen wir uns in einer Zwickmühle zu befinden: Wir streben nach Beständigkeit, um ein allgemeines Gefühl von Sicherheit zu bekommen und um damit auch das seelische Wohlbefinden aufrechtzuerhalten. Gleichzeitig verhindern unweigerliche Lebensabschnittsveränderungen ebendiese langfristige Stabilität. Sich dann auch noch aktiv für oder gegen den Wandel entscheiden zu müssen, wohl wissend, dass sich die Festlegung auf eine Option im späteren Verlauf als falsch erweisen könnte, lässt den Wunsch nach einem geregelten, unkomplizierten Alltag nur noch stärker werden.
Was sorgt nun wirklich für Stabilität im Leben?
Ob nun entsprechende Veränderungen von außen einwirken oder diese ganz bewusst herbeigeführt werden – jedenfalls wird unser Bedürfnis nach stabilen Lebensverhältnissen ständig auf die Probe gestellt. Dennoch gibt es gemäß Salewski einige Lebensbereiche, die Sicherheit und vor allem Konstanz vermitteln, womit auch das Gefühl nicht übermächtig wird, unvorhergesehenen Ereignissen ausgeliefert zu sein oder dem unaufhaltsamen Wandel nicht entkommen zu können:7
- Die Lage sondieren und sich orientieren
Verschafft man sich einen Überblick über mögliche Veränderungen, wägt man das Für und Wider ab und zieht man Familie, Freund*innen oder Vertraute hinzu, entsteht ein Gefühl von Handlungsfähigkeit anstatt von Ohnmacht. Und ebendiese Handlungsfähigkeit verschafft wiederum ein Gefühl von Sicherheit – man hat alles im Griff, obwohl eine Veränderung bevorsteht. - Soziale Netzwerke nutzen und anhaltend pflegen
Wichtigster Bestandteil eines stabilen Lebens sind immer noch die sozialen Kontakte – Familie, die/der Partner*in, Freund*innen, Vertraute. In schwierigen Situationen helfen sie, Problemlösungsstrategien zu erarbeiten, sodass neue Blickwinkel entstehen können. Natürlich gilt umgekehrt dasselbe – dem sozialen Netzwerk unterstützend mit Hilfestellungen zur Seite zu stehen. - Routinen im Alltag
Gerade in unsicheren Zeiten oder dann, wenn wichtige Entscheidungen getroffen werden müssen, die momentan überfordern, helfen routinierte Fixpunkte bei der Strukturierung des Tages und damit auch bei der Aufrechterhaltung der Stabilität. Auch Bewegung (ob ein Spaziergang oder sportliche Betätigung) sollte zu diesen Routinen gehören, denn „[d]er Körper verarbeitet besser, der Kreislauf wird ruhiger und stabiler, die Gedanken werden ruhiger und geordneter“8, so Salewski.
Sie weist jedoch ausdrücklich darauf hin, dass diese Bereiche viel Aufmerksamkeit und Pflege brauchen würden, um von deren Stabilitätswirkung auch zur Gänze profitieren zu können. Investiere man laufend Zeit in diese Bereiche, würden sie in entsprechenden Situationen für die notwendige Stabilität sorgen.9
Zusammenfassend ist Folgendes anzumerken: Die Frage danach, was die Zukunft angesichts der derzeitigen Situation – viele globale Probleme und weltweite Krisen – bringt, kann niemals definitiv beantwortet werden. Und auch dann, wenn man die Möglichkeit hat, Einfluss auf Veränderungen zu nehmen, sorgt dies nicht immer für die notwendige Stabilitätswirkung, denn schon alleine die Wahl der hoffentlich besten Option für eine erfüllende Lebensgestaltung kann überfordern und mit einem Gefühl von Unsicherheit einhergehen. Doch durch die Besinnung auf die eben angeführten drei Bereiche kann zumindest ein wenig Handlungsfähigkeit sowie Sicherheit zurückerlangt werden. Und diese nur einen kleinen Teil des Alltages umfassende Beständigkeit sorgt schlussendlich auch im Hinblick auf unerwartete Lebenssituationen und eine unsichere Zukunft für mehr Wohlbefinden und die Aufrechterhaltung der seelischen Gesundheit im Hier und Jetzt.
1 Vgl. Tschiderer, Martin: Die psychischen Folgekosten der Pandemie. In: wienerzeitung.at. Aktualisiert am 02.11.2021.
URL: https://www.wienerzeitung.at/nachrichten/politik/oesterreich/2126267-Die-psychischen-Folgekosten-der-Pandemie.html [Stand: 18.05.2022].
2 BR Fernsehen: So meistern Sie Veränderungen in Ihrem Leben. In: br.de. Veröffentlicht am 15.11.2020.
URL: https://www.br.de/br-fernsehen/sendungen/wir-in-bayern/service/lebensveraenderungen-meistern-psychologie-birgit-salewski-100.html [Stand: 18.05.2022].
3 Vgl. Weiss, Bertram / Witte, Sebastian: Die Sehnsucht nach Stabilität. In: GEO Wissen Nr. 57 – 05/16.
URL: https://www.geo.de/magazine/geo-wissen/58-rtkl-angst-die-sehnsucht-nach-sicherheit [Stand: 18.05.2022].
4 Weiss, Bertram / Witte, Sebastian: Die Sehnsucht nach Stabilität.
URL: https://www.geo.de/magazine/geo-wissen/58-rtkl-angst-die-sehnsucht-nach-sicherheit [Stand: 18.05.2022].
5 Vgl. Weiss, Bertram / Witte, Sebastian: Die Sehnsucht nach Stabilität.
URL: https://www.geo.de/magazine/geo-wissen/58-rtkl-angst-die-sehnsucht-nach-sicherheit [Stand: 18.05.2022].
6 Weiss, Bertram / Witte, Sebastian: Die Sehnsucht nach Stabilität.
URL: https://www.geo.de/magazine/geo-wissen/58-rtkl-angst-die-sehnsucht-nach-sicherheit [Stand: 18.05.2022].
7 Vgl. BR Fernsehen: So meistern Sie Veränderungen in Ihrem Leben.
URL: https://www.br.de/br-fernsehen/sendungen/wir-in-bayern/service/lebensveraenderungen-meistern-psychologie-birgit-salewski-100.html [Stand: 18.05.2022].
8 BR Fernsehen: So meistern Sie Veränderungen in Ihrem Leben.
URL: https://www.br.de/br-fernsehen/sendungen/wir-in-bayern/service/lebensveraenderungen-meistern-psychologie-birgit-salewski-100.html [Stand: 18.05.2022].
9 Vgl. BR Fernsehen: So meistern Sie Veränderungen in Ihrem Leben.
URL: https://www.br.de/br-fernsehen/sendungen/wir-in-bayern/service/lebensveraenderungen-meistern-psychologie-birgit-salewski-100.html [Stand: 18.05.2022].
Bildhinweis: Adobe Stock
Veröffentlicht am: 15.06.2022