Scheitern erlaubt
Im Alltag streben wir danach, Handlungen zu setzen, die niemals fehlschlagen – und trotzdem scheitern wir so manches Mal an Aufgaben und Herausforderungen. Deswegen stellt sich auch die Frage: Wie gehen wir mit kleinen Fehlern und unüberwindbaren Hindernissen richtig um?
Wir alle werden im Laufe des Lebens mit Situationen konfrontiert, die uns herausfordern, manchmal auch überfordern, die uns an unsere Grenzen bringen … und an denen wir hin und wieder scheitern. So arbeiten wir beispielsweise an einem wichtigen Projekt und machen einen gravierenden Fehler, investieren viel in eine Beziehung, die dennoch in die Brüche geht oder schneiden bei einem sportlichen Wettkampf nicht wie erhofft ab. Und das nagt natürlich am Selbstbewusstsein: Warum bin ich nicht gut genug? Wieso mache ich alles falsch? Wieso passieren immer nur mir solche Fehler? Diese und ähnliche Sätze spuken uns nach dem unmittelbaren Fehlschlag im Kopf herum, denn es widerstrebt uns, Fehler zu machen und zu scheitern. Doch der deutsche Wirtschaftswissenschaftler Christoph Seckler beruhigt: „Wir müssen scheitern, weil Scheitern eine natürliche Begleiterscheinung menschlichen Handelns ist. Weil die Komplexität unserer Umwelt immer größer ist als unser Verständnis davon“1. Demgemäß ist das Scheitern Teil des Lebens und auch in gewisser Weise ‚vorprogrammiert‘ und unumgänglich.
Ungesunde Fehlerkultur
Dennoch ist das Fehlermachen in unserer leistungsorientierten Gesellschaft ein Tabu: Gemessen werden wir nämlich an den Erfolgen, verurteilt für Niederlagen.2 Und diese ‚Fehlerkultur‘ hat Folgen für jede Person: „Je mehr Leistung zum Kriterium für soziale Rolle und das Selbstbild wird, desto gravierender ist ein Versagen“3, so der an der Medical School Hamburg tätige Psychologe und Fehlerforscher Olaf Morgenroth.
Scheitern verboten
Scheitern bedeutet Entwicklung
Nicht nur in allgemeiner Hinsicht kann das Fehlermachen nämlich Fortschritt bedeuten. Abgesehen davon, dass Scheitern immer wieder große Entdeckungen und Erfindungen hervorbringt – beispielsweise die Entdeckung des Penicillins oder des Post-its –7, impliziert eine angemessene Fehlerkultur ebenso eine positive Veränderung die eigene Person betreffend: „Scheitern trägt zur individuellen Entwicklung bei, weil es die Erkenntnis fördert, auch ein anderer sein zu können“8, so Morgenroth. Fehler können nämlich dazu anregen, routinierte Denk- und Handlungsmuster zu durchbrechen und stattdessen neue, vorab nicht bedachte Lösungsansätze zu verfolgen.9 Und damit setzt ein wichtiger Lernprozess ein, denn „[i]m Schatten fehlerhafter Handlungen werden Gewohnheiten, Organisationsprinzipien und Entscheidungsstrukturen sichtbar“10, so der an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich tätige Psychologe Theo Wehner. Und ebendiese gilt es, laufend zu evaluieren und zu optimieren, weswegen das Scheitern ein wichtiges Instrument zur Persönlichkeitsentwicklung darstellt.
Von großer Bedeutung ist es außerdem, dass man sich trotz des Scheiterns der eigenen Stärken bewusst wird. Wir blenden gerne die gut gelungenen Arbeiten aus und konzentrieren uns hingegen intensiver auf Negatives. Dies verursacht nämlich stärkere körperliche, kognitive und emotionale Reaktionen, weswegen es länger im Gedächtnis bleibt.11 Warum manche dennoch besser mit dem Scheitern umgehen können? „Das Geheimnis der Stehaufmännchen ist, dass sie negative Gedanken schneller abstellen können“12, so die Erklärung von der an der Universität Erlangen tätigen Psychologin Andrea Abele-Brehm. Doch wie gelingt dies nun bestmöglich?
Mit Rückschlägen besser umgehen
Natürlich unterscheiden sich die kleinen Fehler, die beispielsweise im Zuge des Arbeitsalltages nicht zu vermeiden sind, von den großen Herausforderungen oder Lebensträumen, an denen man scheitert. Doch zunächst ist es ratsam, eine allgemein adäquate Fehlerkultur zu etablieren:13
- Selbstreflexion
Schon das Nachdenken darüber, warum ein Fehler gemacht wurde, kann dabei helfen, eine weitere Aufgabe mit neuen Lösungsansätzen und einer positiven Einstellung optimistisch in Angriff zu nehmen – und sie erfolgreich zu meistern. - Lernmöglichkeit
Wie mehrfach betont bietet jeder Fehler nämlich die Möglichkeit, es beim nächsten Mal besser zu machen. Wichtig ist nur, sich neuen Herausforderungen aufgrund der Angst vorm Scheitern nicht zu verschließen. - Gelassenheit
Selbstvorwürfe und Selbstmitleid sollten nicht allzu lange vorherrschend sein, denn dies führt nur zur Minderung des Selbstwertes und verhindert die Fokussierung auf neue Aufgaben.
Und wenn man nun für den absoluten Traumjob nicht ausgewählt wurde? Die Weltreise kurz vor Beginn doch nicht gemacht werden kann oder eine Beziehung trotz intensiver Arbeit zerbricht? Auch im Hinblick auf große Enttäuschungen gilt es, nicht den Optimismus und die Lebensfreude zu verlieren:14
- Sich nicht von Trauer überwältigen lassen
Die Münchner Diplom-Psychologin Lena Schiestel rät dazu, die Trauer im ersten Moment zuzulassen, sie jedoch zu verarbeiten und sich dabei selbst nicht zu vernachlässigen: „Ganz am Anfang ist es gut, […] auf ganz basale Dinge zu achten: ausreichend essen, duschen und schauen, dass man gut schläft. Eben dass man nicht wegschiebt, sondern verdaut“15. - Ablenkung suchen
Ein Gespräch mit guten Freund*innen oder der Familie könne schon sehr viel Trost spenden, aber manchmal nicht für die notwendige Ablenkung sorgen, wie Schiestel erläutert. Deswegen empfiehlt sie beispielsweise auch „Serien schauen, rausgehen“16 oder auf andere Gedanken kommen, „indem man sich Biografien von berühmten Persönlichkeiten durchliest, die selber gescheitert sind und es trotzdem zu was gebracht haben. Das kann einem in dem Moment helfen“17. - Sich nicht mit anderen vergleichen
Gerade nach einem Rückschlag neigen wir dazu, uns selbst zu bemitleiden und andere um deren vermeintlich perfektes Leben zu beneiden. „Das ist ein schiefer Vergleich, bei dem man selbst nur verlieren kann“18, so Schiestel. Ihr Rat: Auf das soziale Netzwerk an Vertrauten zurückgreifen, hingegen die ‚Scheinwelten‘ der Social-Media-Kanäle meiden. - Neutraler Blickwinkel
Warum bin ich gescheitert und woran lag es? Auch bei großen Niederlagen hilft es, zu reflektieren und dabei „wie eine wohlwollende Freundin […] die Situation aus dieser Perspektive“19 zu betrachten, wie Schiestel meint. So erhält man womöglich einen anderen Blickwinkel und kann eine neutralere, pragmatischere Haltung einnehmen. - Scheitern gehört zum Leben dazu
Wie bereits erläutert – die Angst vor dem Scheitern sollte nicht einschränkend wirken, denn natürlich „kann man [S]cheitern verhindern, das hieße aber auch, alle Träume zu begraben und nichts mehr zu wollen“20, so Schiestels Fazit. Hat man sich mit einem Rückschlag arrangiert, sollte man sich neuen Herausforderungen stellen oder Zukunftspläne realisieren, um den Selbstwert aufrechtzuerhalten und sich vor allem persönlich weiterzuentwickeln.
Kleine Fehler machen und auf ganzer Linie scheitern – zwar streben wir alle nach bestmöglichen Arbeits- und Handlungsweisen, können aber nicht verhindern, über so manche Herausforderung zu stolpern. Je größer die Niederlage, desto mehr leidet der Selbstwert, doch gemäß den Ausführungen ist es von besonderer Wichtigkeit, aus Fehlern zu lernen, um zukünftig andere Lösungsansätze zu verfolgen. Keinesfalls sollte man sich den Herausforderungen verweigern, denn damit geht ein persönlicher Stillstand einher, der Freudlosigkeit und das Fehlen von neuen, aufregenden Perspektiven zur Folge hat. Tritt man hingegen positiv und optimistisch neuen Aufgaben entgegen, entfaltet man die individuellen Stärken zur Gänze, was das Selbstbewusstsein steigert und damit auch die seelische Balance aufrechterhält.
1 von Liebe, Sylvaine: Wie wir Niederlagen als Chance sehen. In: ardalpha.de Veröffentlicht am 21.12.2022.
URL: https://www.ardalpha.de/wissen/psychologie/scheitern-misserfolg-niederlage-chance-tipps-100.html [Stand: 18.07.2023].
2 Vgl. Schramm, Stefanie / Wüstenhagen, Claudia: Die Kunst des Scheiterns. In: zeit.de. Aktualisiert am 05.08.2013.
URL: https://www.zeit.de/zeit-wissen/2013/04/kunst-scheitern-fehler-machen/komplettansicht [Stand: 18.07.2023].
3 Schramm, Stefanie / Wüstenhagen, Claudia: Die Kunst des Scheiterns.
URL: https://www.zeit.de/zeit-wissen/2013/04/kunst-scheitern-fehler-machen/komplettansicht [Stand: 18.07.2023].
4 Vgl. Schramm, Stefanie / Wüstenhagen, Claudia: Die Kunst des Scheiterns.
URL: https://www.zeit.de/zeit-wissen/2013/04/kunst-scheitern-fehler-machen/komplettansicht [Stand: 18.07.2023].
5 Vgl. Dettmer, Julia: Psychologie: Fehler als Chance nutzen. In: apotheken-umschau.de. Veröffentlicht am 18.05.2021.
URL: https://www.apotheken-umschau.de/gesund-bleiben/psyche/psychologie-fehler-als-chance-nutzen-779617.html [Stand: 18.07.2023] und
vgl. Hecker, Alena: Warum man übers Scheitern reden sollte. In: stuttgarter-nachrichten.de. Veröffentlicht am 17.05.2022.
URL: https://www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.fehler-misserfolge-und-co-warum-man-uebers-scheitern-reden-sollte.2ba41c34-d384-478c-a6f7-e27385b34019.html [Stand: 18.07.2023].
6 von Liebe, Sylvaine: Wie wir Niederlagen als Chance sehen.
URL: https://www.ardalpha.de/wissen/psychologie/scheitern-misserfolg-niederlage-chance-tipps-100.html [Stand: 18.07.2023].
7 von Liebe, Sylvaine: Wie wir Niederlagen als Chance sehen.
URL: https://www.ardalpha.de/wissen/psychologie/scheitern-misserfolg-niederlage-chance-tipps-100.html [Stand: 18.07.2023].
8 Schramm, Stefanie / Wüstenhagen, Claudia: Die Kunst des Scheiterns.
URL: https://www.zeit.de/zeit-wissen/2013/04/kunst-scheitern-fehler-machen/komplettansicht [Stand: 18.07.2023].
9 Vgl. Schramm, Stefanie / Wüstenhagen, Claudia: Die Kunst des Scheiterns.
URL: https://www.zeit.de/zeit-wissen/2013/04/kunst-scheitern-fehler-machen/komplettansicht [Stand: 18.07.2023].
10 o.A.: Scheitern als Chance – Wie wir aus Fehlern lernen. In: 3sat.de. Veröffentlicht am 09.06.2022.
URL: https://www.3sat.de/wissen/wissenschaftsdoku/220609-sendung-wido-104.html [Stand: 18.07.2023].
11 Vgl. Dettmer, Julia: Psychologie: Fehler als Chance nutzen.
URL: https://www.apotheken-umschau.de/gesund-bleiben/psyche/psychologie-fehler-als-chance-nutzen-779617.html [Stand: 18.07.2023].
12 Schramm, Stefanie / Wüstenhagen, Claudia: Die Kunst des Scheiterns.
URL: https://www.zeit.de/zeit-wissen/2013/04/kunst-scheitern-fehler-machen/komplettansicht [Stand: 18.07.2023].
13 Vgl. von Liebe, Sylvaine: Wie wir Niederlagen als Chance sehen.
URL: https://www.ardalpha.de/wissen/psychologie/scheitern-misserfolg-niederlage-chance-tipps-100.html [Stand: 18.07.2023].
14 Vgl. Fiebiger, Verena: Mit diesen 5 Tipps lernt ihr aus eurem Scheitern. In: br.de. Veröffentlicht am 14.05.2019.
URL: https://www.br.de/puls/themen/leben/aus-scheitern-lernen104.html [Stand: 18.07.2023].
15 Fiebiger, Verena: Mit diesen 5 Tipps lernt ihr aus eurem Scheitern.
URL: https://www.br.de/puls/themen/leben/aus-scheitern-lernen104.html [Stand: 18.07.2023].
16 Fiebiger, Verena: Mit diesen 5 Tipps lernt ihr aus eurem Scheitern.
URL: https://www.br.de/puls/themen/leben/aus-scheitern-lernen104.html [Stand: 18.07.2023].
17 Fiebiger, Verena: Mit diesen 5 Tipps lernt ihr aus eurem Scheitern.
URL: https://www.br.de/puls/themen/leben/aus-scheitern-lernen104.html [Stand: 18.07.2023].
18 Fiebiger, Verena: Mit diesen 5 Tipps lernt ihr aus eurem Scheitern.
URL: https://www.br.de/puls/themen/leben/aus-scheitern-lernen104.html [Stand: 18.07.2023].
19 Fiebiger, Verena: Mit diesen 5 Tipps lernt ihr aus eurem Scheitern.
URL: https://www.br.de/puls/themen/leben/aus-scheitern-lernen104.html [Stand: 18.07.2023].
20 Fiebiger, Verena: Mit diesen 5 Tipps lernt ihr aus eurem Scheitern.
URL: https://www.br.de/puls/themen/leben/aus-scheitern-lernen104.html [Stand: 18.07.2023].
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Veröffentlicht am: 30.08.2023