Psychische Krankheiten klassifizieren und diagnostizieren
Eine kurze Einführung zur Gliederung von psychischen Erkrankungen.
Wir alle klassifizieren viele Elemente in unserem Alltag und in unterschiedlichen Lebensbereichen. So teilen wir beispielsweise verschiedene Arten von Kuchen und Gebäck diversen Kategorien zu und unterscheiden danach zwischen Rührteig, Biskuitteig oder Knetteig und vielem mehr.1
Der Grund für die weite Verbreitung des Klassifizierens scheint vor allem auf die häufige Anwendung einer solchen Gliederung zurückzugehen. Schon unsere Vorfahren haben beispielsweise zwischen giftigen und essbaren Pflanzen unterschieden und auch in unserer modernen westlichen Gesellschaft differenzieren wir zwischen ‚Kalorienbomben‘ und gesünderen Speisen mit ihren jeweiligen Unterkategorien.2 Und so, wie wir das Gegebene klassifizieren, werden auch psychische Erkrankungen entsprechend gruppiert.
Doch zu welchem Zweck müssen psychische Krankheiten überhaupt klassifiziert werden?
Im psychiatrischen Kontext dienen die Diagnostik und die Klassifikation von psychischen Erkrankungen in erster Linie der Behandlungsplanung sowie der Evaluation des Behandlungsverlaufs und des -ergebnisses. Dazu werden die Symptome von Patient*innen (beispielsweise Niedergeschlagenheit) im diagnostischen Prozess ergründet und unter anderem mithilfe von Klassifikationssystemen in diagnostische Kategorien eingeordnet; diese Kategorien entsprechen in weiterer Folge spezifischen Diagnosen (wie zum Beispiel einer ‚Mittelgradigen depressiven Episode‘). Da die Diagnosen von psychischen Störungen allein für die Behandlungsplanung und -evaluation nicht ausreichend sind, beinhaltet die Diagnostik neben der Klassifikation auch die Erfassung von störungsspezifischen Merkmalen einerseits (zum Beispiel das Ausfüllen eines Fragebogens, um das Ausmaß der depressiven Symptomatik eruieren zu können) und störungsübergreifenden Merkmalen andererseits (wie die Erfassung relevanter Aspekte der Lebensgeschichte).3 Und speziell für Krankheiten und Gesundheitsprobleme gibt es ein eigenes Klassifikationsschema, welches internationale Gültigkeit besitzt.
(Psychische) Erkrankungen werden nach dem sogenannten ICD-10 eingeordnet.
Die von der WHO herausgegebene International Classification of Diseases and Related Health Problems, kurz ICD, ist das international anerkannte System zur Klassifikation von körperlichen und psychischen Erkrankungen.4 Eingesetzt wird es in der ambulanten und stationären Versorgung zur Kodierung und Diagnose. Der Zusatz ‚10‘ weist auf die derzeit gültige Fassung (10. Revision) hin; im Jahr 2022 wird jedoch die Ausgabe ICD-11, also eine überarbeitete Form, in Kraft treten.5
Historisch geht das Klassifikationssystem auf die 1850er Jahre und auf den Beschluss über eine einheitliche, internationale Nomenklatur der Todesursachen zurück. Darauffolgend wurden Verzeichnisse von Krankheitsgruppen und Krankheiten bzw. Klassifikationssysteme erstellt und immer wieder überarbeitet. Mit Gründung der WHO wurde der Zuständigkeitsbereich der Klassifikation sodann auf diese übertragen;6 seit 1996 gilt für alle Gesundheitssysteme der Mitgliedsstaaten der WHO die neueste Auflage des ICD-Schlüssels.7
Und wie wird nun eine Klassifikation anhand des ICD-10 vorgenommen?
Aber können psychischen Krankheit überhaupt genau klassifiziert werden?
Das Klassifikationsschema ermöglicht, wie bereits erwähnt, die Diagnostik sowie eine zielführende Behandlung von Betroffenen. Und obwohl der ICD-10 gerade im Hinblick auf psychische Erkrankungen viele Vorteile mit sich bringt, gibt es auch nachteilige Effekte.
Zu befürworten sind zunächst die folgenden Aspekte:14
- Bessere Kommunikationsbasis
Aufgrund einer genauen Zuordnung ist ein Austausch zwischen den Gesundheitseinrichtungen effektiver, da auf ein einheitliches und klar definiertes Klassifikationsverzeichnis zurückgegriffen werden kann. - Universelle Anwendung
Das Klassifikationsschema kann in allen Gesundheitsberufen angewendet werden. - Ökonomische Informationsvermittlung sowie Standardisierung diagnostischer Entscheidungen
Wenn mittels Klassifikation eine Diagnose gestellt wurde, so können der entsprechenden Krankheit auch explizite Merkmale zugeordnet werden. - Handlungsanleitung für ein praktisches Vorgehen
Nicht zuletzt bietet die Klassifikation psychischer Erkrankungen einen Leitfaden für mögliche Behandlungsansätze, speziell angepasst an die entsprechende Symptomatik.
Neben den eben angeführten Vorteilen sind mögliche Nachteile der Klassifikation hauptsächlich auf die/den Betroffene*n zurückzuführen:15
- Informationsverlust durch Etikettierung und wegen mangelnder Beschreibung des Einzelfalls
Mittels Klassifikation besteht die Gefahr, dass die Erkrankung mit all ihren Facetten nicht genauestens erfasst wird, wodurch wichtige Informationen verloren gehen und individuelle Symptome vernachlässigt werden. Stattdessen wird nur noch ‚etikettiert‘, also allgemein zugeschrieben, aber nicht auf die betroffene Person separat eingegangen. - Stigmatisierung durch Etikettierung
Wenn die betroffene Person nur noch über die Krankheit und ihre Klassifizierung definiert wird, so sehen sich Betroffene mit ihrem ‚Etikett‘ konfrontiert. Und dieses Etikett vermittelt sodann auch eine scheinbare Abweichung von der ‚Norm‘.
Im Generellen bietet eine solche Klassifikation jedoch aufgrund Vereinheitlichung und Standardisierung sowie durch kontinuierliche Weiterentwicklung und Aktualisierung die Möglichkeit, sich weit über Grenzen hinaus über dieselbe Erkrankung auszutauschen und bestmögliche Ansätze für eine Genesung zu verfolgen. Denn erst mithilfe einer gezielten Diagnose und Einteilung kann die notwendige, aber vor allem eine individuelle Behandlung gewährleistet werden. Und wie eingangs erwähnt – wir kategorisieren unseren Alltag, um Unterscheidungen treffen zu können und um in weiterer Folge gemäß diesen Einteilungen auch zu handeln.
1 Vgl. Reinecker, Hans (Hrsg.): Lehrbuch der Klinischen Psychologie und Psychotherapie. Modelle psychischer Störungen. 4., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage. Göttingen: Hogrefe 2003.
2 Vgl. Reinecker, Hans (Hrsg.): Lehrbuch der Klinischen Psychologie und Psychotherapie. Modelle psychischer Störungen. Göttingen: Hogrefe 2003.
3 Vgl. Caspar, Franz / Pjanic, Irena / Westermann, Stefan: Klinische Psychologie. Basiswissen Psychologie. Wiesbaden: Springer Fachmedien 2018.
4 Vgl. Caspar, Franz / Pjanic, Irena / Westermann, Stefan: Klinische Psychologie. Basiswissen Psychologie. Wiesbaden: Springer Fachmedien 2018.
5 Vgl. Lechner, Christina: ICD-11: Neu-Klassifikation Beitrag zur besseren Awareness. In: medonline.at. Veröffentlicht am 02.08.2019.
URL: https://medonline.at/10032129/2019/icd-11-beitrag-zur-besseren-awareness/ [Stand: 10.02.2021].
6 Vgl. Reimbursement Institute: ICD-10-GM.
URL: https://reimbursement.institute/glossar/icd-10/# [Stand: 08.02.2021].
7 Vgl. Margraf, Jürgen / Schneider, Silvia (Hrsg.): Lehrbuch der Verhaltenstherapie. Band 1. 3. Auflage. Heidelberg: Springer 2009.
8 Vgl. Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte: ICD-10-GM Version 2021. Aktualisiert am 11.11.2020.
URL: https://www.dimdi.de/static/de/klassifikationen/icd/icd-10-gm/kode-suche/htmlgm2021/ [Stand: 16.02.2021].
9 Sie können online über das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte »» einsehen, welche Gruppen genau dem Kapitel 5 unterliegen.
10 Vgl. Reimbursement Institute: ICD-10-GM.
URL: https://reimbursement.institute/glossar/icd-10/# [Stand: 08.02.2021].
11 Vgl. Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte: ICD-10-GM Version 2021. Aktualisiert am 11.11.2020.
URL: https://www.dimdi.de/static/de/klassifikationen/icd/icd-10-gm/kode-suche/htmlgm2021/ [Stand: 16.02.2021].
12 Vgl. Caspar, Franz / Pjanic, Irena / Westermann, Stefan: Klinische Psychologie. Basiswissen Psychologie. Wiesbaden: Springer Fachmedien 2018.
13 Vgl. Reimbursement Institute: ICD-10-GM.
URL: https://reimbursement.institute/glossar/icd-10/# [Stand: 08.02.2021].
14 Vgl. Reinecker, Hans (Hrsg.): Lehrbuch der Klinischen Psychologie und Psychotherapie. Modelle psychischer Störungen. Göttingen: Hogrefe 2003.
15 Vgl. Reinecker, Hans (Hrsg.): Lehrbuch der Klinischen Psychologie und Psychotherapie. Modelle psychischer Störungen. Göttingen: Hogrefe 2003.
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Veröffentlicht am: 24.02.2021