Für mehr psychische Gesundheit – ein Interview mit Mental-Health-Speakerin und -Visionärin Dominique de Marné

 

Warum werden Menschen mit psychischen Erkrankungen immer noch stark stigmatisiert, obwohl mehr denn je über psychische Gesundheit gesprochen wird? Und was können wir alle für die Aufrechterhaltung der psychischen Gesundheit tun? Die Mental-Health-Speakerin und -Visionärin sowie Unternehmerin Dominique de Marné, die uns schon bei unserer Tagung zum Thema “Beteiligung” begleitet hat, hat mit uns in einem Interview offen über diese und weitere Fragen gesprochen.

Frau de Marné, was bedeutet für Sie persönlich psychische Gesundheit/Mental Health?

Dominique de Marné: Für mich persönlich ist sie nicht selbstverständlich, weil ich einfach weiß, wie es ist, keine Mental Health mehr zu haben. Mental gesund zu sein, bedeutet für mich – auch wenn das vielleicht kitschig klingt –, mit mir im Reinen zu sein. Damit meine ich, dass ich nicht mehr vor mir selber weglaufen muss, mich kenne, weiß, was gut für mich ist etc.

Es bedeutet für mich aber auch, resilient zu sein, denn auch als ‚Mental-Health-Expertin‘ habe ich Tage, Phasen, Momente, wo es nicht so gut läuft. Der Unterschied zu früher ist, wie häufig solche Phasen vorkommen, wie sehr sie mich treffen und aus der Bahn werfen, wie lange sie anhalten. Und auch anders ist, dass ich sie überhaupt wahrnehme, oft schon zu Beginn und nicht erst dann, wenn ich schon mittendrin stecke.Und das ist für mich Resilienz. Es geht also nicht darum, dass immer nur überall die Sonne scheint, sondern wie ich auch mit Rückschlägen umgehe.

Psychische Gesundheit bedeutet für mich außerdem, selber entscheiden zu können, mein Leben unter Kontrolle zu haben – soweit man es eben unter Kontrolle haben kann. Aber früher haben meine Erkrankungen sehr große Teile meines Lebens kontrolliert, und heute darf ich das selber machen. Und ich bin einfach glücklich deswegen. Ich kann das Leben genießen, ich empfinde sehr viel Dankbarkeit für sehr, sehr vieles und ich weiß, dass sehr viele Dinge einfach nicht selbstverständlich sind.

Sie selbst engagieren sich stark für mehr Bewusstsein im Bereich der psychischen Gesundheit, beispielsweise mittels Vorträge, Trainings und mit Ihrem Blog. Wie reagieren Rezipient*innen darauf? Welche Rückmeldungen erhalten Sie?

Dominique de Marné: Ich darf tatsächlich sagen, dass sie überwiegend positiv reagieren, vor allem mit Dankbarkeit, Respekt, Offenheit, Neugier. Leute lassen sich durch meine Geschichte und durch meine Ausführungen inspirieren und motivieren. Sie gehen dann selber offener mit ihren eigenen Themen um, suchen Gespräche, verändern Dinge in ihrem Leben. Ich glaube, das liegt auch daran, dass ich das Thema sehr positiv besetze und ich nie von Universallösungen spreche. Ich konzentriere mich auf Dinge, die wirklich leicht anwendbar sind. Gleichzeitig mache ich aber niemals Heilsversprechen. Ich sage einfach: „Das hat mir geholfen, aber da hatte ich auch einfach meine Schwierigkeiten. Probiert es einfach mal aus. Es lohnt sich“. Egal, ob ich mit anderen Betroffenen, anderen Erfahrungsexpert*innen, mit Angehörigen oder ob ich in Unternehmen, in Schulen, mit Fachleuten darüber rede – „Wo ein Mensch, da eine Mental Health” und am Ende rede ich von Mensch zu Mensch, auch wenn der Kontext vielleicht ein anderer ist und man gewisse Faktoren mit ansprechen muss, oder eben nicht. Die Reaktionen, das Feedback, Nachrichten und wahre Stammkund*innen bestärken mich weiter darin, meine eigene Begeisterung für das Thema weiterzugeben. Gepaart mit der Authentizität kann ich so viele Hemmschwellen abbauen.

Menschen mit psychischen Erkrankungen kämpfen seit jeher mit gesellschaftlicher Stigmatisierung, obwohl in den vergangenen Jahren die Anzahl an Betroffenen rasant zugenommen hat und auch die mediale Berichterstattung das Thema stärker fokussiert. Woran liegt es, dass Betroffenen gegenüber immer noch zu wenig Verständnis entgegengebracht wird?

Dominique de Marné: Meine ganz klare Überzeugung ist, dass kein Mensch morgens aufsteht und andere Menschen mit psychischen Erkrankungen stigmatisieren will. Das, was wir als stigmatisierend erleben und was dahintersteckt, ist eigentlich Unsicherheit, Unwissenheit und auch eine gewisse Hilflosigkeit. Die meisten Menschen lernen einfach weder im Elternhaus noch in der Schule oder später im Leben etwas über mentale Gesundheit und psychische Erkrankungen – leider. Deswegen machen die Themen Angst. Dadurch bewegt man sich davon eher weg und baut eine Mauer auf, anstatt sich dem hinzuwenden. Und das finde ich auch wunderbar an dem Stigma, denn – wir können es ändern; indem wir reden, erzählen, aufklären, teilen, bauen wir Unsicherheit, Unwissenheit und Hilflosigkeit ab. „Hey, das ist nicht schlimm, dass du es bis jetzt noch nicht anders wusstest. Es hat dir nie jemand beigebracht. Jetzt können wir einmal darüber sprechen, was eigentlich ein besseres Verhalten wäre und was diese Erkrankungen genau bedeuten“. Und – es ist ja jetzt auch nicht wirklich so, dass es einfach viel mehr Erkrankungen gibt, auch wenn besonders die Pandemie und die vielen Krisen aktuell gewisse Störungsbilder gewissermaßen befeuern. Aber auch vor Covid, Krieg und & gab es Mental Health. Es wurde aber einfach nicht erkannt, nicht darüber geredet, und ich finde es wichtig, diesen „Woher wir kommen“-Aspekt mitzubedenken. Vor 50 oder 70 Jahren hätte ich mich auch noch nicht hingestellt und gesagt: „Hey übrigens, ich hatte da mal eine psychische Erkrankung“, weil die gesellschaftlichen oder insgesamt allgemeinen Konsequenzen einfach so enorm für mich gewesen wären. Wir haben noch viele Menschen, die noch andere Zeiten erlebt haben, so wie die Großeltern oder auch Eltern. Und trotzdem – wir haben in den letzten Jahrzehnten schon sehr, sehr viel geschafft. Es ändert sich etwas. Gerade wenn ich mir die Jugend und deren Umgang mit mentaler Gesundheit anschaue – der Umgang ist dort schon ein deutlich anderer. Es gibt schon mehr und mehr Unternehmen, die ein anderes Verhältnis zum Thema mentale Gesundheit haben. Es ist heute zwar noch nicht alles gut und es gibt noch Stigmatisierung und leider noch viele Betroffene, die schlechte Erfahrungen machen, aber es werden auch immer mehr Betroffene, die gute Erfahrungen machen. Ich glaube, ein Problem ist, dass wir über mentale Gesundheit häufig im Kontext der psychischen Erkrankungen sprechen. Wenn wir da lernen, es zu normalisieren und zu sagen: „Hey, wir dürfen auch über Mental Health reden, wenn es uns gut geht“, dann wird der Umgang damit einfach alltäglicher und dann könnten wir auch viel erreichen. Aber großteils ist es einfach dieses: „Hey, ich weiß einfach nicht, was eine Schizophrenie ist, wie ich da jemandem helfen soll. Das macht mir irgendwie Angst“. Ich zeige also stigmatisierende Reaktionen. Das heißt, gerade bei diesen komplizierteren Erkrankungen ist der Aufklärungsbedarf, glaube ich, noch viel höher. Das sehen wir auch an Statistiken. Vorurteile gegenüber Menschen mit Depressionen sind in den letzten Jahren zurückgegangen, Vorurteile gegenüber Menschen mit Schizophrenie haben dagegen eher zugenommen. Zwar stimmt es, dass wir jetzt viel mehr über Mental Health reden, aber es bleibt oft sehr in diesem Spektrum: „Solange wir über Yoga und Achtsamkeit und ein bisschen Burn-out und vielleicht über ein bisschen Depression sprechen, ist es okay. Aber komm mir nicht mit einer Psychose oder Schizophrenie, darüber wollte ich jetzt nicht reden“. Das alles, das Positive wie das Negative als Ganzes zu sehen und den Leuten einfach mehr Sicherheit zu geben, würde, glaube ich, sehr viel verändern.

Was ist Ihrer Ansicht nach notwendig, um psychische Erkrankungen stärker zu thematisieren und der Stigmatisierung entgegenzuwirken?

Dominique de Marné: Einige Punkte habe ich da schon genannt. Vor allem geht es mir darum, davon wegzukommen, dass Mental Health immer gleich ‚krank sein‘ bedeutet; immer gleich diese Schwere, immer gleich diese traurige Klaviermusik. Ich wünsche mir und arbeite daran, dass mehr und mehr Menschen verstehen, dass es Spaß machen darf, über Mental Health zu reden. Das kann leicht sein, das kann locker sein – es braucht einfach die Aufklärung.

Mir persönlich ist Mental Health Literacy, also psychische Gesunheitskompetenz enorm wichtig, denn es reicht am Ende nicht, #mentalhealthaware zu sein. Es geht darum, zu wissen, was mentale Gesundheit eigentlich ist, wie ich sie erkenne, wovon sie beeinflusst wird, was ich für sie tun kann, wie ich jemanden unterstützen kann, wie man gut darüber spricht, damit umgeht. Vieles davon ist im Kontext körperlicher Gesundheit/Krankheit irgendwie selbstverständlich.

Und Prävention ist mir wichtig und wird momentan einfach nicht genug betrieben. Dazu gehört auch, Wissen zu vermitteln, aber auch Vorsorgeuntersuchungen bei Therapeut*innen, Früherkennung, ein anderer Umgang in der Gesellschaft.

Am Ende war es diese Kombination bzw. das Nicht-Vorhandensein davon, das bei mir dazu geführt hat, dass ich 10 Jahre meines Lebens an die Erkrankungen verloren habe. Hätte nicht sein müssen – und dass es weniger und weniger Menschen so geht, daran arbeite ich.

Ich weiß gar nicht, ob wir die psychischen Erkrankungen stärker thematisieren müssen. Verhältnismäßig reden wir in dem gesamten Kontext Mental Health eigentlich zu viel über psychische Erkrankungen. Dann sagen eben viele Leute: „Ja, aber ich bin ja nicht psychisch krank. Das Thema hat mit mir nichts zu tun“. Was ich auch merke – den Leuten helfen ganz viele Fakten. Es muss einfach mal bewusst gemacht werden, dass zum Beispiel in Deutschland jeder Dritte*jede Dritte einmal im Leben von einer psychischen Erkrankung betroffen ist, dass die Erkrankung früh beginnen kann und wie viele Suizide wir eigentlich dadurch haben. Viele Leute wissen einfach gar nicht, wie präsent dieses Thema ist. Und dann kann man ihnen einfach wirklich mit den ‚nackten‘ Zahlen helfen. Es geht darum, eine andere, normalere Art zu wählen, mit dem Thema mentale Gesundheit umzugehen, mehr Leuten Wissen zu geben, darüber zu sprechen, „Was ist denn eigentlich eine Depression? Was ist eine Essstörung? Was kann ich tun, wenn das jemand hat? Was steckt dahinter?“. Das in meinem Erleben ist für die Leute ein ganz wichtiger Schlüssel.

Was kann jede*r für sich persönlich tun, um psychisch gesund zu bleiben?

Dominique de Marné: Zuerst einmal kann man schauen, wo man gerade steht und sich fragen: „Wie geht es mir eigentlich gerade? Wo läuft es gerade gut? Wo ist es vielleicht gerade eher problematisch“, und wirklich einschätzen, nicht immer weiterdrehen, sondern einmal kurz stehenbleiben. Nur dann kann ich feststellen, was gerade sinnvoll für mich wäre. Die Leute denken immer, das der Fokus auf Mental Health bzw. die eigene mentale Gesundheit gleichbedeutend ist mit: „Ich setze mich 2 Stunden in einer unbequemen Sitzposition auf den Boden und versuche, nicht mehr zu denken“. Dabei gehen wir dann in Richtung Meditation. Oder sie glauben, dass sogleich mit einer Therapie angefangen werden muss. Aber es können ja ganz kleine Sachen sein. Für mich – meine Mental Health Maintenance – ist zum Beispiel meine Morgenroutine: Ich stehe jeden Morgen früh auf und habe gewissen Abläufe wie Sport, Yoga und Meditation oder das Schreiben in meinem Journal. Das bedeutet aber nicht, dass jeder um 5 Uhr morgens aufstehen und eine Morgenroutine machen muss, aber es geht darum, sich jeden Tag ein paar Minuten für sich selbst zu nehmen. Was ich als sehr praktisch für den Alltag empfinde, ist die Batterie-Metapher: Genau wie unsere Smartphones haben auch wir Menschen eine ‚Batterie‘ – nur die meisten von uns kümmern sich besser um den Smartphone-Akku als den eigenen. Idealerweise kombiniert man diesen Akku-Check mit etwas, das man immer macht. Es geht darum zu erkennen, wie unser aktueller Status gerade ist – das hilft beim Verstehen, warum wir an manchen Tagen vielleicht anders reagieren, gereizter, dünnhäutiger als an anderen sind. Und genau wie unsere Smartphones haben auch wir Menschen ‚Apps‘ in unserem Leben – manche kosten uns (viel) Energie, andere laden uns regelrecht auf. Und es geht gar nicht darum, keine Apps mehr zu haben, die Energie kosten – das ist illusorisch. Vielmehr sollten wir zusehen, dass wir eine Balance zwischen diesen beiden schaffen, denn leider sind die Dinge, die uns Kraft kosten, meistens automatisch da, Dinge wie Haushalt, Nachrichten, Zahnschmerzen oder bei vielen Leuten auch Arbeit. Und die Dinge, die Apps, die uns laden – Hobbys, Freund*innen, Natur, Musik –, für diese Dinge müssen wir uns Zeit nehmen, sie aktiv planen – keine*r kommt zu mir und sagt: „Hey, nimm dir jetzt mal 30 Minuten Zeit, zu lesen“.

Für mich geht mentale Gesundheit darüber hinaus beim Körper los und bei Dingen wie Schlaf, Ernährung, Bewegung. Das ist nicht nur wichtig für den Körper, sondern auch für die Psyche. Theoretisch wissen wir das alles und das können wir alle jeden Tag tun. Alleine Schlaf zu priorisieren und nicht zu denken, dass ich jetzt eigentlich nicht schlafen möchte, weil ich noch eine Stunde lang eine Serie auf Netflix schauen oder eine Stunde durch Instagram scrollen muss. Am nächsten Morgen will man das Bett dann nämlich gar nicht verlassen, weil man ja eigentlich so spät ins Bett gegangen ist. Es wäre also wichtig, dass wir Schlaf etwas positiver besetzen, ihm einen höhreren Stellenwert einräumen und ihn nicht als Störfaktor sehen. Außerdem – Dankbarkeit: Jeden Abend sollte man sich 3 Sachen sagen, wofür man dankbar ist. Das kann man mit dem Partner, mit der Familie oder auch auf der Arbeit machen. Zahllose Studien zeigen, wie gut Dankbarkeit für unsere mentale Gesundheit ist, dass sie – dauerhaft angewandt – unser Stresslevel senkt, genau wie unser Risiko für Angsterkrankungen oder Depressionen. Also genau jetzt gerne mal an drei Dinge denken, die gerade gut sind, egal wie klein oder groß.

Wir bedanken uns herzlichst bei Dominique de Marné für das Interview sowie für ihre Zeit und Mühe!

Informationen sowie Kontaktangaben zur Mental-Health-Speakerin Dominique de Marné finden Sie hier »» 

 


Bildhinweis: Arvid Uhlig

Veröffentlicht am: 05.06.2024