Endlose Erschöpfung als schwerwiegendes Krankheitsbild
Die Erkrankung wurde lange vernachlässigt und nicht beachtet, aber die durch die Corona-Pandemie explodierenden Krankheitsfälle machen es notwendig, ME/CFS endlich in den Fokus der Aufmerksamkeit rücken zu lassen.
Damit unser Körper sich laufend und in vielerlei Hinsicht regeneriert, ist ausreichend Schlaf das Um und Auf – eine Lebensnotwendigkeit. Ständige Müdigkeit bzw. Energielosigkeit trotz regelmäßiger Erholungsphasen könnte sodann als Symptom von beispielsweise Mangelzuständen wie Vitamin-, Mineralstoff- oder Spurenelementmangel entlarvt werden, auf eine Vielzahl von körperlichen Erkrankungen wie Diabetes, Infektionen oder Schilddrüsen-Probleme hindeuten, genauso aber auch in Begleitung von Depressionen oder Angststörungen auftreten.1 Daneben gibt es eine Erkrankung, deren Hauptmerkmal Müdigkeit, Erschöpfung und Kraftlosigkeit ist, und zwar in einer für Außenstehende nicht vorstellbaren Art und Weise, die im schlimmsten Fall dazu führt, das Leben nicht mehr allein bewältigen zu können und auf ständige Pflege angewiesen zu sein – die Rede ist von der Myalgischen Enzephalomyelitis bzw. vom Chronischen Fatigue Syndrom, kurz ME/CFS.
Viele Fragezeichen um eine schon lange bekannte Krankheit
Bei ME/CFS handelt es sich um eine schwere neuroimmunologische Multisystemerkrankung,2 deren Ursache seit ihrer ersten Klassifikation durch die WHO im Jahr 1969 bis heute nicht zureichend bekannt ist.3 Zwar wird davon ausgegangen, dass als ein möglicher Auslöser eine virale oder bakterielle Infektion infrage komme, jedoch trifft dies nur auf einen Teil der Patient*innen zu; vielfach kann keine ursächliche Krankheitsentstehung ausgemacht werden.4 Und obwohl durch die Corona-Pandemie alleine in Österreich die Zahl der Krankheitsfälle von zuvor geschätzt 30.000 auf mittlerweile ca. 80.000 (exklusive Dunkelziffer) rapide angestiegen ist,5 herrscht im Allgemeinen immer noch viel zu wenig Wissen über diese heimtückische, schwerwiegende Erkrankung, die bislang kaum erforscht ist. Dies hat zur Folge, dass ME/CFS nicht heilbar ist sowie auch keine allgemeingültigen therapeutischen Maßnahmen zur Symptomlinderung getroffen werden können.6
Zu wenig Verständnis und Anerkennung
Hinzu kommt, dass „die Leiden der Betroffenen nicht immer ernst genommen [werden], es gibt leider eine gewisse Stigmatisierung“7, räumt Oswald Wagner von der Medizinischen Universität Wien ein. Dies beginne bereits damit, dass in Österreich zu wenige Expert*innen für die Erkrankung zu finden seien,8 wie die Betroffene Elisabeth Toifl berichtet: „Wir haben bei Arztbesuchen zwei Mappen dabei. Eine mit den Befunden und eine mit Informationen zum Krankheitsbild“9. Natalie Grams, die durch eine Covid-Infektion an ME/CFS erkrankt ist, ärgert sich vor allem über vorschnelle, falsche Diagnosen: „[S]ie [Anm.: ME/CFS] wird nur seit Jahrzehnten ignoriert oder als psychosomatisches Leiden falsch eingeordnet und damit auch nicht richtig behandelt“10. Der österreichische Neurologe und einer der wenigen Experten auf diesem Gebiet, Michael Stingl, weiß um diese Stigmatisierung Betroffener: „Sie gehen zum Arzt – werden nicht ernst genommen. Sie kriegen schlechte Empfehlungen. Der Arzt sagt: „Machen Sie mehr Sport! Reißen Sie sich zusammen!“, was nur zu einer Verschlechterung führt – und dazu, dass die Leute auf diesen Arzt künftig verzichten. Sie ziehen sich aus dem Sozialleben zurück, weil Weggehen am Abend einfach nicht mehr drin ist. […] CFS kickt die Betroffenen total aus ihrem Alltag“11. Wodurch genau zeichnet sich die Erkrankung nun aber wirklich aus?
Ein Hauptsymptom mit mehreren ‚Begleitern‘
Hauptsymptom von ME/CFS ist die sogenannte Post-Exertionelle Malaise (kurz PEM), bei der sich alle weiteren Symptome nach bereits weniger körperlicher oder geistiger Anstrengung merklich verstärken.12 Dies betrifft insbesondere die extrem eingeschränkte Leistungsfähigkeit im Generellen sowie das Erschöpfungs-/Müdigkeitsgefühl, was sich auch nach Ruhezeiten nicht verbessert. Weiteres Symptom der Erkrankung ist die sogenannte orthostatische Intoleranz: Der Kreislauf der Betroffenen bleibt nicht über längere Zeit hinweg stabil, was sowohl einen sehr schnellen Pulsschlag im Stehen als auch einen Blutdruckabfall in aufrechter Position bis hin zur Ohnmacht nach sich ziehen kann. Hinzu treten neurokognitive Symptome wie Konzentrationsstörungen, Schwierigkeit beim Denken (Betroffene beschreiben dies als ‚Hirnnebel‘), Wortfindungsschwierigkeiten genauso wie eine verlangsamte Auffassungsgabe oder Probleme bei der Informationsverarbeitung auf. Außerdem leiden Betroffene an einer erhöhten Infektanfälligkeit, an Schlafstörungen trotz anhaltender Müdigkeit, an akuten oder chronischen Schmerzen sowie an Magen-Darm-Beschwerden.13
Enorme psychische Belastung
Diese massive Alltags-/Lebenseinschränkung bzw. sehr geringe Lebensqualität führt häufig zu massiven psychischen Belastungserscheinungen. Betroffene entwickeln als ‚Begleiterkrankung‘ nicht selten Depressionen,15 und gemäß einer im Jahr 2024 veröffentlichten Studie aus der Schweiz sehen sich 40 % der Befragten mit Suizidgedanken aufgrund des mangelnden Verständnisses, der Stigmatisierung und der extremen körperlichen/psychischen Belastung konfrontiert.16
Neben einer symptomorientierten Behandlung zur Linderung einzelner Symptome wie Schlafstörungen, Schmerzen oder der orthostatischen Intoleranz (in vielen Fällen medikamentöse Therapie) wird somit auch Psychotherapie in einem für Betroffene erträglichen Ausmaß vielfach empfohlen.17 Im Vordergrund einer solchen Therapie steht dabei vor allem das Symptommanagement: „Im Prinzip ist es das Allerwichtigste zu lernen, wo die Energiegrenzen sind, das sogenannte Pacing“18, erklärt Stingl. „Das heißt: ein Aktivitäten-Tagebuch zu führen, sich anzuschauen, wodurch es einem an einem Tag schlecht geht, zu testen, wie weit man gehen kann, bis die Erschöpfung wiederkommt und wie lange man danach braucht, um zu regenerieren“19, so seine weiterführende Erläuterung. Ziel des Pacing – eine genaue Einteilung der vorhandenen Energie für diverse, notwendige Aktivitäten – ist es, unterhalb der Belastungsgrenze zu bleiben, um einen ‚Crash‘ in Form einer PEM zu verhindern, die ja eine allgemeine Verschlechterung der Symptome mit sich bringt. Wichtig ist, dass Pacing nicht dazu gedacht ist, die Belastungsgrenze auszuweiten (ein Zuviel an Aktivitäten führt bei ME/CFS wie erwähnt immer zu einer Symptomverschlechterung), sondern lediglich die bereits eingeschränkte Lebensqualität zu erhalten. Neben der Erarbeitung von Pacing-Strategien unterstützt die Psychotherapie Patient*innen auch dabei, mit dem Verlust der Lebensqualität sowie mit der damit einhergehenden Trauer besser umzugehen.20
Ein Funken Hoffnung
Diese unvorstellbare Belastung der Betroffenen aufgrund einer noch sehr wenig erforschten Erkrankung verlangt nach mehr Aufmerksamkeit in vielerlei Hinsicht: Nach mehr Verständnis, das mit einem Abbau von Stigmatisierungsprozessen einhergeht, und nach dringend benötigter Hilfe. Gerade durch den markanten Anstieg an ME/CFS-Betroffenen durch die Corona-Pandemie – ME/CFS ist übrigens die schwerste Form von Long Covid –21 hoffen Betroffene nun darauf, das versäumte Forschung nachgeholt wird: „Im Vergleich zur Multiplen Sklerose hinkt die Erforschung der ME/CFS circa 40 Jahre hinterher“22, wie die betroffene Grams, ihres Zeichens selbst Ärztin, beklagt. „Die Fachleute, mit denen ich sprechen konnte, sind voller Hoffnung, dass sich in wenigen Jahren ein Heilmittel für die Krankheit finden lässt […] [d]a […] durch die Pandemie und die vielen Long-Covid-Fälle nun die Aufmerksamkeit da ist“23, so Grams weiter. Für Betroffene bleibt somit aktuell nur, die Erkrankung zu akzeptieren und sich selbst nicht aufzugeben, wie Stingl appelliert: „Das sagt sich so leicht, ist in Wahrheit aber extrem schwierig. […] Wichtig ist das Verständnis vom Umfeld. Das ist eine reale Krankheit und Betroffene würden wollen, aber sie können nicht“24. Grams fasst die Krankheitssituation pragmatisch und im Hinblick auf möglichst baldige Hilfe somit schlicht zusammen: „So ist das Leben mit ME/CFS: man kriegt es nicht mehr alleine hin, aber man kämpft weiter“25.
1 Vgl. Oberberg: Wo ist meine Energie hin? In: oberbergkliniken.de.
URL: https://www.oberbergkliniken.de/symptome/muedigkeit#c9364 [Stand: 27.03.2025].
2 Vgl. Kruckenhauser, Pia / Wotke Levin: ME/CFS-Betroffene: Ein Leben im Schatten der Gesellschaft. In: derstandard.at. Veröffentlicht am 22.03.2023.
URL: https://www.derstandard.at/story/2000144689971/mecfs-betroffene-einleben-im-schatten-der-gesellschaft [Stand: 27.03.2025].
3 Vgl. Medizinische Universität Wien: Informationen zu ME/CFS. In: meduniwien.ac.at.
URL: https://www.meduniwien.ac.at/web/forschung/projekte/computer-based-clustering-of-chronic-fatigue-syndrome-patients/allgemeine-informationen/ [Stand: 27.03.2025].
4 Vgl. Medizinische Universität Wien: Informationen zu ME/CFS.
URL: https://www.meduniwien.ac.at/web/forschung/projekte/computer-based-clustering-of-chronic-fatigue-syndrome-patients/allgemeine-informationen/ [Stand: 27.03.2025].
5 Vgl. Kruckenhauser Pia: Meilenstein für die Erforschung von ME/CFS: 700.000 Euro Förderung. In: derstandard.at. Veröffentlicht am 22.10.2024.
URL: https://www.derstandard.at/story/3000000241778/meilenstein-fuer-die-erforschung-von-mecfs-700000-euro-foerderung [Stand: 27.03.2025].
6 Vgl. Medizinische Universität Wien: Informationen zu ME/CFS.
URL: https://www.meduniwien.ac.at/web/forschung/projekte/computer-based-clustering-of-chronic-fatigue-syndrome-patients/allgemeine-informationen/ [Stand: 27.03.2025] und
vgl. Deutsche Gesellschaft für ME/CFS: Was ist ME/CFS? In: mecfs.de.
URL: https://www.mecfs.de/was-ist-me-cfs/ [Stand: 27.03.2025].
7 Kruckenhauser Pia: Meilenstein für die Erforschung von ME/CFS: 700.000 Euro Förderung.
URL: https://www.derstandard.at/story/3000000241778/meilenstein-fuer-die-erforschung-von-mecfs-700000-euro-foerderung [Stand: 27.03.2025].
8 Vgl. Kruckenhauser, Pia / Wotke Levin: ME/CFS-Betroffene: Ein Leben im Schatten der Gesellschaft. In: derstandard.at. Veröffentlicht am 22.03.2023.
URL: https://www.derstandard.at/story/2000144689971/mecfs-betroffene-einleben-im-schatten-der-gesellschaft [Stand: 27.03.2025].
9 Kruckenhauser, Pia / Wotke Levin: ME/CFS-Betroffene: Ein Leben im Schatten der Gesellschaft. In: derstandard.at. Veröffentlicht am 22.03.2023.
URL: https://www.derstandard.at/story/2000144689971/mecfs-betroffene-einleben-im-schatten-der-gesellschaft [Stand: 27.03.2025].
10 Marx, Martina: Leben mit ME/CFS: „An schlechten Tagen kann ich gar nichts tun. Außer Atmen.“. In: kleinezeitung.at. Veröffentlicht am 17.08.2024.
URL: https://www.kleinezeitung.at/lebensart/gesundheit/18760981/leben-mit-me-cfs-an-schlechten-tagen-kann-ich-gar-nichts-tun-ausser [Stand: 27.03.2025].
11 Krämer, Anja: Experteninterview: Leben mit Chronic Fatigue Syndrom. In: kuriert.at. Veröffentlicht am 13.02.2019.
URL: https://kurier.at/gesund/experteninterview-leben-mit-chronic-fatigue-syndrom/400401842 [Stand: 27.03.2025].
12 Vgl. Deutsche Gesellschaft für ME/CFS: Was ist ME/CFS? In: mecfs.de.
URL: https://www.mecfs.de/was-ist-me-cfs/ [Stand: 27.03.2025].
13 Vgl. Medizinische Universität Wien: Informationen zu ME/CFS.
URL: https://www.meduniwien.ac.at/web/forschung/projekte/computer-based-clustering-of-chronic-fatigue-syndrome-patients/allgemeine-informationen/ [Stand: 27.03.2025].
14 Vgl. Deutsche Gesellschaft für ME/CFS: Was ist ME/CFS? In: mecfs.de.
URL: https://www.mecfs.de/was-ist-me-cfs/ [Stand: 27.03.2025].
15 Vgl. Deutsche Gesellschaft für ME/CFS: Was ist ME/CFS? In: mecfs.de.
URL: https://www.mecfs.de/was-ist-me-cfs/ [Stand: 27.03.2025].
16 Vgl. Deutsche Gesellschaft für ME/CFS: Informationsblatt – Begleitende Psychotherapie bei ME/CFS. In: mecfs.de. Veröffentlicht am 17.03.2025.
URL: https://www.mecfs.de/psychotherapie/ [Stand: 27.03.2025].
17 Vgl. Deutsche Gesellschaft für ME/CFS: Informationsblatt – Begleitende Psychotherapie bei ME/CFS.
URL: https://www.mecfs.de/psychotherapie/ [Stand: 27.03.2025].
18 Krämer, Anja: Experteninterview: Leben mit Chronic Fatigue Syndrom.
URL: https://kurier.at/gesund/experteninterview-leben-mit-chronic-fatigue-syndrom/400401842 [Stand: 27.03.2025].
19 Krämer, Anja: Experteninterview: Leben mit Chronic Fatigue Syndrom.
URL: https://kurier.at/gesund/experteninterview-leben-mit-chronic-fatigue-syndrom/400401842 [Stand: 27.03.2025].
20 Vgl. Deutsche Gesellschaft für ME/CFS: Informationsblatt – Begleitende Psychotherapie bei ME/CFS.
URL: https://www.mecfs.de/psychotherapie/ [Stand: 27.03.2025].
21 Vgl. Kruckenhauser, Pia: Die heimtückische Krankheit, für die sich niemand zuständig fühlt. In: derstandard.at. Veröffentlicht am 22.03.2023.
URL: https://www.derstandard.at/story/2000144750436/die-heimtueckische-krankheit-fuer-die-sich-niemand-zustaendig-fuehlt [Stand: 27.03.2025].
22 Marx, Martina: Leben mit ME/CFS: „An schlechten Tagen kann ich gar nichts tun. Außer Atmen.“.
URL: https://www.kleinezeitung.at/lebensart/gesundheit/18760981/leben-mit-me-cfs-an-schlechten-tagen-kann-ich-gar-nichts-tun-ausser [Stand: 27.03.2025].
23 Marx, Martina: Leben mit ME/CFS: „An schlechten Tagen kann ich gar nichts tun. Außer Atmen.“.
URL: https://www.kleinezeitung.at/lebensart/gesundheit/18760981/leben-mit-me-cfs-an-schlechten-tagen-kann-ich-gar-nichts-tun-ausser [Stand: 27.03.2025].
24 Krämer, Anja: Experteninterview: Leben mit Chronic Fatigue Syndrom.
URL: https://kurier.at/gesund/experteninterview-leben-mit-chronic-fatigue-syndrom/400401842 [Stand: 27.03.2025].
25 Marx, Martina: Leben mit ME/CFS: „An schlechten Tagen kann ich gar nichts tun. Außer Atmen.“.
URL: https://www.kleinezeitung.at/lebensart/gesundheit/18760981/leben-mit-me-cfs-an-schlechten-tagen-kann-ich-gar-nichts-tun-ausser [Stand: 27.03.2025].
Bildhinweis: Lea Aring und Deutsche Gesellschaft für ME/CFS
(Sowohl Adobe-Stock-Fotos als auch KI-generierte Bilder bilden die Krankheit und die Qual der betroffenen Personen in vielen Fällen nicht realitätsnahe genug ab. Das angeführte Bild zeigt tatsächlich eine betroffene Person, fotografiert von Lea Aring und der Deutschen Gesellschaft für ME/CFS.)
Veröffentlicht am: 02.04.2025