Eine etwas andere Wesensart – Die Autismus-Spektrum-Störung

 

Miteinander sprechen, die Umwelt wahrnehmen, Informationen verarbeiten – diese alltäglichen und für uns schon fast banalen Vorgänge gestalten sich für Autist*innen auf eine uns fremde Art und Weise.

Für viele von uns entspricht es der Normalität und auch Notwendigkeit, mit unseren Mitmenschen zu kommunizieren. Durch unsere Sprachfertigkeiten teilen wir uns unserem Gegenüber mit und treten so in eine wechselseitige Interaktion. Das Gesagte dabei nonverbal mit bestimmten Gesten, der Mimik oder mit Berührungen zu unterstreichen, gehört unweigerlich zum sprachlichen Austausch dazu. Wenn nun aber die Fähigkeiten dahin gehend gestört sind? Das Gesprochene keinen Sinn ergibt, eine Gestik nichts mitteilt, eine Berührung sogar unangenehm ist? Denn mit dieser wesentlichen Problematik und weiteren zusätzlichen umweltbedingten sowie wahrnehmungsspezifischen Herausforderungen sehen sich Menschen mit einer Autismus-Spektrum-Störung immerfort konfrontiert.

Das gesamte Spektrum erfassen

Bei Autismus handelt es sich um eine nicht heilbare neurologische Entwicklungsstörung ohne bekannte Ursache, welche von Geburt an besteht, aber noch nicht sogleich zu erkennen ist. Erst ab dem ersten Lebensjahr können verschiedenste Merkmale auf eine Autismus-Spektrum-Störung hinweisen.1 Vielfach, selbst von Betroffenen, wird Autismus nicht als Krankheit wahrgenommen, „sondern als eine Variante auf einem breiten Spektrum des Verhaltens und Erlebens, der Neurodiversität23.

Unterschieden wird gemäß dem ICD-10 zwischen 3 verschiedenen Arten der Autismus-Spektrum-Störung:

  • Frühkindlicher Autismus (auch Kanner-Autismus4 genannt)
    Diese Form der Störung macht sich bereits im 1. bis spätestens 3. Lebensjahr bemerkbar und kennzeichnet sich vor allem durch eine atypische und meist verzögerte sprachliche Entwicklung. In manchen Fällen sprechen betroffene Kinder gar nicht, in anderen wiederum kann die Störung dazu führen, dass erworbene Sprachkompetenzen wieder verloren gehen. Somit ist eine Einschränkung in der Kommunikation sichtbar, aber auch verminderte Interessen des Kindes sowie Verhaltensweisen, die auf eine fortwährende Wiederholung von bestimmten Tätigkeiten abzielen, werden erkennbar.5
  • Atypischer Autismus
    Diese Art unterscheidet sich vom frühkindlichen Autismus darin, dass die eben erwähnten Merkmale nicht zur Gänze festgestellt werden können und auch entsprechende Symptome erst nach dem 3. Lebensjahr auftreten. Zudem wird die Diagnose hauptsächlich dann gestellt, wenn eine schwere Verzögerung in der Entwicklung im Allgemeinen sowie im Sprachvermögen ersichtlich wird.6
  • Asperger-Syndrom
    Bei dieser Form von Autismus, welche sich meist erst nach dem 3. Lebensjahr bemerkbar macht, sind keine sprachlichen Einschränkungen gegeben, jedoch Schwierigkeiten in der Interaktion mit anderen Menschen. Feststellbar ist auch eine mangelnde Flexibilität und mitunter kann es zu Verzögerungen in der motorischen Entwicklung kommen. Menschen mit Asperger-Syndrom weisen außerdem eine durchschnittliche bis überdurchschnittliche Intelligenz auf und beschäftigen sich häufig mit bestimmten Spezialgebieten.7

Im ICD-10 wird auch noch eine vierte Form der Autismus-Spektrum-Störung angeführt, nämlich die nicht näher bezeichnete tiefgreifende Entwicklungsstörung. Dabei deuten verschiedenste Merkmale zwar auf eine Störung hin, jedoch kann eine genaue Zuordnung aufgrund mangelnder Informationen oder uneiniger Befundung nicht getroffen werden.8

Im Generellen lässt sich nicht immer eindeutig feststellen, welche Form von Autismus nun tatsächlich zutrifft. Häufig wird deswegen nicht eine bestimmte Variante explizit diagnostiziert, sondern die Merkmale der diversen Arten zum Begriff ‚Autismus-Spektrum-Störung‘ zusammengefasst. Damit soll darauf hingewiesen werden, dass Autismus im Generellen sowohl verschiedene Ausprägungen als auch milde oder schwere Verläufe mit sich bringen kann.9

Besondere Verhaltens- und Wahrnehmungsmuster

Wie bereits mehrfach hingewiesen kennzeichnet sich eine Autismus-Spektrum-Störung vor allem durch Einschränkungen im Sprachverhalten, aber auch Auffälligkeiten hinsichtlich bestimmter Verhaltensmuster sowie ungewöhnlicher Reaktionen auf Sinneseindrücke können festgestellt werden.

Zunächst werden bestimmte Handlungsweisen damit erklärt, dass Betroffene die Außenwelt als ungeordnet wahrnehmen und deswegen auch Probleme dahin gehend haben, Veränderungen zu bewältigen. Durch stereotype, wiederholende Tätigkeiten versuchen sie, dem ‚Chaos‘, also einer gewissen Dynamik, entgegenzuwirken. Beispielsweise müssen Spielzeuge auf die immer gleiche Art geordnet sein oder das Essen darf ausschließlich auf einem Teller in bestimmter Farbe serviert werden. Auch auffällige Körperbewegungen wie das Schaukeln des Oberkörpers oder das Flattern mit Armen können zutage treten. Ebenso kennzeichnen ausgeprägte Spezialinteressen die Verhaltensweise von Menschen mit Autismus-Spektrum-Störung: Sie beschäftigen sich beispielsweise immerfort mit Objekten, die eine für sie angenehme Haptik aufweisen, schön anzusehen sind oder bestimmte Geräusche erzeugen. Zudem markiert die Fokussierung auf bestimmte Themengebiete wie Stromnetze oder Zugfahrpläne ein auffälliges Verhalten.10

Des Weiteren reagieren Menschen mit Autismus-Spektrum-Störung intensiv auf ihre Umgebung, beispielsweise auf bestimmte Reize wie Geräusche oder Stimmen. Daher versuchen sie, unangenehme Wahrnehmungen zu meiden. In manchen Fällen üben entsprechende Reize wenig bis gar keinen Einfluss auf Betroffene aus, sodass zum Beispiel eine Schmerz- oder Kältereaktion nahezu ausbleibt. Um die individuellen Bedürfnisse zu befriedigen, suchen sie sodann regelrecht nach einer reizauslösenden Situation, indem sie beispielsweise bewusst Nahrungsmittel zuführen, die einen intensiven Geschmack aufweisen, in manchen Fällen auch nicht ess- bzw. genießbar wie beispielsweise Gras oder Knetmasse sind.11

Informationen werden anders als gewöhnlich verarbeitet

Ein weiteres Merkmal, das eine Autismus-Spektrum-Störung kennzeichnet, ist eine für Betroffene eher schwierige Informationsverarbeitung. So richten sie beispielsweise ihre Aufmerksamkeit vorzugsweise auf für sie interessante Elemente und haben folglich auch Probleme, in Erfahrung zu bringen, was im Moment tatsächlich von Wichtigkeit ist. Sie formen beispielsweise das Gesagte gedanklich häufig in Bilder um, wodurch sprachliche Informationen nur zum Teil verarbeitet werden. Und auch wegen einer zu großen Fokussierung auf materielle Details ist es ihnen nicht immer möglich, die Gesamtheit wahrzunehmen. Beispielsweise fixieren manche Betroffene nur einen Teil eines Spielzeugs und sehen das Spielzeug dabei nicht als große Einheit.12

Verbesserung der Symptome durch eine intensive Therapie

Obwohl Autismus nicht heilbar ist, können die einzelnen Symptome im Zuge einer Therapie verbessert werden. Die Behandlung ist je nach Ausprägung verschiedenster Merkmale immer individuell festgelegt und zielt hauptsächlich auf ein verbessertes Kommunikationsvermögen, die Förderung verschiedenster Entwicklungsbereiche sowie des Spielverhaltens und auf ein Training des allgemeinen sozialen Handelns ab.13 Medikamente kommen nur dann zum Einsatz, wenn die Störung zusätzliche psychische Begleitkrankheiten mit sich bringt, beispielsweise Phobien, Schlafstörungen, Depressionen, ADHS oder Epilepsie.14

Im Generellen sind viele Betroffene von der Symptomatik einer Autismus-Spektrum-Störung trotz therapeutischer Behandlung derart beeinträchtigt, sodass sie das Leben nicht selbstständig bestreiten können.15 Aufgrund der durch die Störung vielfach vorliegenden unterdurchschnittlichen Intelligenz (dies betrifft etwa 45 % aller vom frühkindlichen Autismus Betroffenen) sowie sprachlicher Einschränkungen sind sie demnach häufig auf Hilfe und zum Teil auch auf intensive Pflege angewiesen.16 Anderen wiederum ist es möglich, den Alltag mitsamt beruflicher Tätigkeit ohne ständige Unterstützung zu meistern.17

Gemäß den Erläuterungen markieren somit verschiedenste Merkmale unterschiedlicher Ausprägungen – vor allem die Sprache, Wahrnehmung und Informationsverarbeitung betreffend – die Autismus-Spektrum-Störung, welche häufig zu einer Verminderung der allgemeinen Lebensqualität führen. In vielen Fällen treten die Symptome aber auch nur in milder Form auf, sodass der Alltag relativ normal gestaltet werden kann. Damit wird auch eine Zuordnung der Störung zum Krankheitsbegriff vielfach abgelehnt: „Autismus ist ganz klar keine Krankheit, sondern eine Störung, die dann Krankheitswert bekommen kann, wenn der betroffene Mensch mit den Anforderungen, die auf ihn zukommen, nicht zurechtkommt“18, wie die Schweizer Psychiaterin Maria Asperger Felder erläutert. Und so wird die Autismus-Spektrum-Störung letztendlich als eine besondere Charaktereigenschaft bzw. als eine einfach andere Wesensart auf dem breiten Spektrum der Neurodiversität interpretiert.

 


1 Vgl. Öffentliches Gesundheitsportal Österreichs: Autismus. Zuletzt aktualisiert am 08.02.2017.
URL: https://www.gesundheit.gv.at/krankheiten/psyche/diagnose-therapie [Stand: 16.09.2021].

2 Unter Neurodiversität versteht man eine Abweichung vom als normal empfundenen neurobiologischen Konzept, was jedoch nicht immer als Einschränkung, Behinderung oder gar Krankheit zu interpretieren ist. Vgl. dazu Hery-Moßmann, Nicole: Neurodiversität – das steckt hinter dem Begriff. In: focus.de. Veröffentlicht am 20.03.2021.
URL: https://praxistipps.focus.de/neurodiversitaet-das-steckt-hinter-dem-begriff_129947 [Stand: 21.09.2021].

3 Gelitz, Christiane: Menschen mit Autismus urteilen rationaler. In: spektrum.de. Veröffentlicht am 07.08.2021.
URL: https://www.spektrum.de/news/menschen-mit-autismus-sind-rationaler-und-moralisch-standfester/1907563 [Stand: 16.09.2021].

4 Vgl. Mocker, Daniela: Fünf Dinge über Autismus, die häufig missverstanden werden. In: spektrum.de. Veröffentlicht am 01.04.2016.
URL: https://www.spektrum.de/wissen/fuenf-dinge-ueber-autismus-die-haeufig-missverstanden-werden/1379101 [Stand: 16.09.2021].

5 Vgl. Dachverband Österreichische Autistenhilfe: Frühkindlicher Autismus.
URL: https://www.autistenhilfe.at/was-ist-autismus/formen/fruehkindlicher-autismus/ [Stand: 16.09.2021].

6 Vgl. Dachverband Österreichische Autistenhilfe: Atypischer Autismus.
URL: https://www.autistenhilfe.at/was-ist-autismus/formen/atypischer-autismus/ [Stand: 16.09.2021] und
vgl. Öffentliches Gesundheitsportal Österreichs: Autismus.
URL: https://www.gesundheit.gv.at/krankheiten/psyche/diagnose-therapie [Stand: 16.09.2021].

7 Vgl. Dachverband Österreichische Autistenhilfe: Asperger-Syndrom.
URL: https://www.autistenhilfe.at/was-ist-autismus/formen/asperger-syndrom/ [Stand: 16.09.2021] und
vgl. Felchner, Carola: Asperger Syndrom. In: focus-arztsuche.de. Veröffentlicht am 06.11.2019.
URL: https://focus-arztsuche.de/magazin/krankheiten/psychische-erkrankungen/was-ist-das-asperger-syndrom-und-wie-erkennt-man-es [Stand: 21.09.2021].

8 Vgl. Dachverband Österreichische Autistenhilfe: Nicht näher bezeichnete tiefgreifende Entwicklungsstörungen.
URL: https://www.autistenhilfe.at/was-ist-autismus/formen/nicht-naeher-bezeichnete-tiefgreifende-entwicklungsstoerungen/

9 Vgl. Mocker, Daniela: Fünf Dinge über Autismus, die häufig missverstanden werden.
URL: https://www.spektrum.de/wissen/fuenf-dinge-ueber-autismus-die-haeufig-missverstanden-werden/1379101 [Stand: 16.09.2021].

10 Vgl. Dachverband Österreichische Autistenhilfe: Besonderheiten im Verhalten:
URL: https://www.autistenhilfe.at/was-ist-autismus/hauptmerkmale/besonderheiten-im-verhalten/ [Stand: 16.09.2021].

11 Vgl. Dachverband Österreichische Autistenhilfe: Besonderheiten in der Wahrnehmung.
URL: https://www.autistenhilfe.at/was-ist-autismus/hauptmerkmale/besonderheiten-in-der-wahrnehmung/ [Stand: 16.09.2021] und
vgl. Müller, Linus: Autismus und Wahrnehmung. In: autismus-kultur.de.
URL: https://autismus-kultur.de/autismus/autipedia/wahrnehmung-autistischer-menschen.html#geschmack [Stand: 21.09.2021].

12 Vgl. Dachverband Österreichische Autistenhilfe: Besonderheiten in der Verarbeitung von Informationen.
URL: https://www.autistenhilfe.at/was-ist-autismus/hauptmerkmale/besonderheiten-in-der-verarbeitung-von-informationen/ [Stand: 16.09.2021].

13 Vgl. Öffentliches Gesundheitsportal Österreichs: Autismus.
URL: https://www.gesundheit.gv.at/krankheiten/psyche/diagnose-therapie [Stand: 16.09.2021].

14 Vgl. Dachverband Österreichische Autistenhilfe: Begleitende Schwierigkeiten.
URL: https://www.autistenhilfe.at/was-ist-autismus/begleitende-schwierigkeiten/ [Stand: 16.09.2021].

15 Vgl. Mocker, Daniela: Fünf Dinge über Autismus, die häufig missverstanden werden.
URL: https://www.spektrum.de/wissen/fuenf-dinge-ueber-autismus-die-haeufig-missverstanden-werden/1379101 [Stand: 16.09.2021].

16 Vgl. Stroth, Sanna / Kamp-Becker, Inge: Ein Leben lang anders. In: spektrum.de. Veröffentlicht am 08.09.2016.
URL: https://www.spektrum.de/news/wie-autismus-sich-im-laufe-des-lebens-veraendert/1422016 [Stand: 16.09.2021].

17 Vgl. Mocker, Daniela: Fünf Dinge über Autismus, die häufig missverstanden werden.
URL: https://www.spektrum.de/wissen/fuenf-dinge-ueber-autismus-die-haeufig-missverstanden-werden/1379101 [Stand: 16.09.2021].

18 Hager, Christa: Keine Kunst ohne Autismus? In: wienerzeitung.at. Veröffentlicht am 01.04.2014.
URL: https://www.wienerzeitung.at/dossiers/autismus/618151_Keine-Kunst-ohne-Autismus.html [Stand: 16.09.2021].

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Veröffentlicht am: 27.10.2021