Mehr als Routine – Rituale als Sicherheits- und Stabilitätsfaktor

 

Vermeintlich gewöhnliche Alltagsroutinen werden häufig erst dann vermisst, wenn ein entsprechendes Ritual wie das Frühstück, der Sport am Nachmittag oder die Entspannungsübung am Abend entfällt. Aber woran genau liegt das und welche Wirkung habe solche ‚Fixpunkte‘ auf uns und unsere Seele?

Im gesamten Tagesablauf finden sich immer wieder kleine Handlungen, die jedes Mal auf dieselbe Art und Weise ausgeführt werden. Das kann der Kaffee am Morgen sein, die Routine im Badezimmer oder das Lesen eines Buches vor dem Zubettgehen. Auch bei Geburtstagsfeiern, zu Weihnachten oder Silvester gibt es zahlreiche kleine Abläufe, die bekannt und doch freudebringend sind: Das Ausblasen der Kerzen auf der Geburtstagstorte, das Klingeln des Glöckchens, welches die Bescherung ankündigt, oder der euphorische Countdown zum Jahreswechsel. Doch warum scheinen wir solche Rituale zu brauchen?

Ordnung im Chaos schaffen

Damit wir im Alltag trotz unvorhergesehener Ereignisse Stabilität erlangen, sind kleine, automatisierte Rituale von großer Notwendigkeit, denn sie „schaffen Ordnung in einer zufälligen Welt. Sie stabilisieren, auch wenn wir sonst das Gefühl haben, alles sei belanglos“1, so die Erläuterung des deutschen Religionswissenschaftlers Michael von Brück. Wiederkehrende und routinierte Abläufe und Handlungen erzeugen nämlich ein Gefühl von Sicherheit und Struktur. Geht diese Struktur demnach verloren, schwindet ebenso eine gewisse notwendige Konstanz.2 Haben wir morgens also beispielsweise keine Zeit für die übliche Tasse Kaffee, kann dies negativ auf die Laune wirken. Oder wird unsere abendliche Badezimmer-Routine gestört, fehlt der gewohnte Tagesabschluss, was uns unruhig werden lässt.

Gliederung von wichtigen Lebensereignissen

Neben den alltäglichen Ritualen werden auch diverse Feste zelebriert, die immer nach denselben, gewohnten Mustern ablaufen, zum einen deswegen, weil Bräuche gewisse symbolische Handlungen voraussetzen. So wird beispielsweise dem Geburtstagskind gratuliert, zu Weihnachten gibt es eine besondere Mahlzeit und zu Silvester tauscht man Glücksbringer aus. Zum anderen erleichtern Rituale aufgrund ihrer stabilisierenden Wirkung gewisse Übergänge. Eine Hochzeit markiert die Zusammengehörigkeit zweier Menschen, eine Trauerfeier verhilft dazu, sich von einer geliebten Person zu verabschieden.3 Und weil ebendiese vertrauten Rituale immer ähnlichen und zumindest großteils bekannten Abläufen folgen, dennoch nur selten stattfinden, schaffen sie eine besondere Atmosphäre – nur zum Geburtstag werden die Kerzen auf der Torte ausgeblasen, nur zu Weihnachten hören wir das bimmelnde Glöckchen im Nebenraum.4

Gemeinschaftsstiftende Gepflogenheiten

Zwar unterscheiden sich die eben genannten Beispiele je nach Herkunft und kulturellen Gepflogenheiten, aber neben den strukturellen Aspekten haben alle diese ritualisierten Handlungen noch einen weiteren Sinn: Sie erzeugen ein Gefühl von Gemeinschaft. Als Familie immer zusammen zu essen oder eine Feierlichkeit mit Freund*innen zu begehen, führt zur Entstehung eines ‚Wir-Gefühls‘. Versucht man sich, dem zu entziehen, und werden entsprechende gemeinsame Rituale nicht eingehalten, kann dies zu Ausgrenzung führen.5

Automatismen im Alltag fördern das psychische Wohlbefinden

Struktur und Stabilität, Vertrautheit und Gemeinschaftsempfinden – all diese Entitäten tragen zur Aufrechterhaltung des psychischen Wohlbefindens bei. Aber auch schon kleine Rituale im Alltag helfen dabei, gezielt Auszeiten zu schaffen und damit Stress abzubauen. Beispielsweise unterstützen persönliche Morgenrituale einen entspannten und gleichzeitig fokussierten Start in den Tag, während automatisierte Routinehandlungen während Pausenzeiten über den Tag verteilt dabei helfen, den Kopf freizubekommen. Und auch abends fördern bestimmte gleichbleibende Aktivitäten, mit dem Tag abzuschließen und besser einzuschlafen. Empfohlen wird jedoch, Gewohnheiten zu wechseln, damit sich diese nicht in starre Alltagsroutinen wandeln und dadurch ihren entspannenden Charakter verlieren.6

Wenn Rituale zu psychischen Erkrankungen führen

Im Generellen gehen diese rituellen Unternehmungen automatisch vonstatten. Verspürt man jedoch einen enormen inneren Druck, entsprechende Handlungen immer wieder und über mehrere Stunden hinweg nach einem sich wiederholenden Schema bis zur Erschöpfung durchzuführen, ist dies nicht mehr einem gewöhnlichen Alltagsritual zuzuordnen, sondern einer Zwangsstörung7.8 In diesem Fall gilt es jedenfalls, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen, da Zwangsstörungen den Alltag massiv einschränken und beherrschen können.

Auch andere Rituale, so beispielsweise das entspannende alkoholische Getränk nach der Arbeit, können auf Dauer krank machen: „Wenn man selbst glaubt, darauf nicht verzichten zu können, ist das schon eine psychische Abhängigkeit“9, wie Christa Roth-Sackenheim, Vorsitzende des Berufsverbandes Deutscher Psychiater erklärt. Die Expertin rät dazu, ein Ritual mit gefährlichen Folgen – wie das tägliche ‚Feierabendbier‘ – durch ein anderes, harmloses zu ersetzen. „Vielleicht erziele ich die gleiche Wirkung ja auch mit zehn Minuten Yoga oder Spazierengehen, oder einfach mit einer Dusche“10, so ihr Vorschlag.

Demnach gilt es, hin und wieder entsprechende Rituale hinsichtlich ihrer gesundheitswirksamen Komponenten kritisch zu hinterfragen und gegebenenfalls mit anderen zu ersetzen, um mögliche Risiken für Körper und Psyche zu reduzieren bzw. abzuwenden. Ungeachtet dessen helfen verschiedenste automatisch ausgeführte Rituale aber dennoch dabei, ein Stabilitätsgefühl im Alltag zu erzeugen und diesem bestimmte Strukturen zu verleihen. In weiterer Folge führt deren Ausübung zu Stressabbau und zu Entspannung und damit zur Förderung der psychischen Gesundheit. Werden rituelle Handlungen zusammen mit anderen Menschen ausgeführt, fördern sie das Gemeinschafts- und Zugehörigkeitsgefühl, und werden sie zur Tradition, bekommen sie schließlich einen symbolischen sowie bedeutungsvollen Charakter. Und haben diese Rituale zudem keinerlei Folgen für Körper und Psyche, entfalten sie auch ihre volle Wirkung als unterstützendes Element zur Aufrechterhaltung der seelischen Gesundheit.

 


1 Wagner, Beatrice: Die unheimliche Macht der Rituale. In: welt.de. Veröffentlicht am 14.06.2011.
URL: https://www.welt.de/gesundheit/psychologie/article13428523/Die-unheimliche-Macht-der-Rituale.html [Stand: 26.07.2022].

2 Vgl. o.A.: Fünf Gründe, warum Rituale gerade jetzt wichtig sind. In: bleibgesund.de. Veröffentlicht am 16.12.2020.
URL: https://www.bleibgesund.de/familie/familienleben/warum-wir-rituale-brauchen/ [Stand: 26.07.2022].

3 Vgl. o.A.: Fünf Gründe, warum Rituale gerade jetzt wichtig sind.
URL: https://www.bleibgesund.de/familie/familienleben/warum-wir-rituale-brauchen/ [Stand: 26.07.2022].

4 Vgl. Martenstein, Harald: Der Sinn des Immergleichen: Warum Rituale so wichtig sind. In: GEO Kompakt Nr. 61/2019.
URL: https://www.geo.de/wissen/22345-rtkl-familienleben-der-sinn-des-immergleichen-warum-rituale-so-wichtig-sind [Stand: 26.07.2022].

5 Vgl. o.A.: Fünf Gründe, warum Rituale gerade jetzt wichtig sind.
URL: https://www.bleibgesund.de/familie/familienleben/warum-wir-rituale-brauchen/ [Stand: 26.07.2022].

6 Vgl. o.A.: Fünf Gründe, warum Rituale gerade jetzt wichtig sind.
URL: https://www.bleibgesund.de/familie/familienleben/warum-wir-rituale-brauchen/ [Stand: 26.07.2022].

7 Erfahren Sie mehr über das Krankheitsbild der Zwangsstörung in unserem Blogbeitrag vom 01.09.2021 „Von Zwängen beherrscht – wenn man nicht anders kann“ »»

8 Vgl. Schindler, Sylvie-Sophie: Rituale bis zur absoluten Erschöpfung. In: stern.de. Veröffentlicht am 28.01.2008.
URL: https://www.stern.de/panorama/wissen/mensch/zwangsstoerung-rituale-bis-zur-absoluten-erschoepfung-3223116.html [Stand: 26.07.2022] und
vgl. Küster, Yvonne: Zwangsstörungen. In: focus-arztsuche.de. Veröffentlicht am 23.01.2020.
URL: https://focus-arztsuche.de/magazin/krankheiten/psychische-erkrankungen/welche-symptome-treten-bei-einer-zwangsstoerung-auf [Stand: 26.07.2022].

9 dpa / tmn: Mit neuen Ritualen den Alltagsstress bekämpfen. In: sueddeutsche.de. Veröffentlicht am 08.05.2019.
URL: https://www.sueddeutsche.de/gesundheit/gesundheit-mit-neuen-ritualen-den-alltagsstress-bekaempfen-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-190507-99-117776 [Stand: 26.07.2022].

10 dpa / tmn: Mit neuen Ritualen den Alltagsstress bekämpfen.
URL: https://www.sueddeutsche.de/gesundheit/gesundheit-mit-neuen-ritualen-den-alltagsstress-bekaempfen-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-190507-99-117776 [Stand: 26.07.2022].

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Veröffentlicht am: 07.09.2022