Narrenfreiheit für die Seele
Im Alltag sind wir beherrscht, doch am Faschingsdienstag scheinen wir auf vielerlei Art und Weise jegliche Contenance zu verlieren. Warum feiern wir die 5. Jahreszeit aber so gerne und inwiefern profitiert unsere Psyche davon?
Die seit 11. November andauernde Faschingszeit nähert sich nun dem Höhepunkt, denn kommende Woche zum Faschingsdienstag herrscht wieder ‚Narrenfreiheit‘ – wir kostümieren uns, feiern zusammen mit Bekannten und schlagen sowohl hinsichtlich Essens- als auch Getränkekonsum über die Stränge. Aber warum treiben wir es zu Fasching so bunt und was hat dies mit unserer psychischen Gesundheit zu tun?
Aus dem Alltag bewusst ausbrechen
Der Faschingsdienstag gilt als der eine Tag im Jahr, an welchem wir uns ‚närrisch‘ benehmen können und auch dürfen, ohne von unseren Mitmenschen als skurril wahrgenommen zu werden: „Das Bedürfnis, sich einmal abseits der Realität und ohne alle Konsequenzen auszuprobieren, steckt in jedem Menschen. Karneval bietet die Gelegenheit dazu“1, wie der deutsche Psychologe Wolfgang Oelsner erläutert. Weil wir in unserem Alltag an unser verantwortungsvolles Verhalten hinsichtlich Familie, Beruf und Freizeit gebunden sind und damit auch gesellschaftlichen Zwängen unterliegen, bietet der Fasching (in Deutschland der Karneval) die Möglichkeit, sämtliche Verhaltensmuster an den Tag zu legen, die ansonsten mit Argwohn betrachtet werden würden.2 „Alles, was wir heute tun, ist das Ergebnis vieler Kompromisse“3, so Oelsners weitere Ausführung dazu.
Deswegen wird der Fasching von Expert*innen auch hinsichtlich des psychischen Wohlbefindens als willkommener ‚Feiertag‘ gepriesen: „Karneval ist gut für das psychische Gleichgewicht“4, so der Sozialpsychologe Rolf van Dick von der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main, denn ausschlaggebend sei „das Gefühl, heute kann ich machen, was ich will“5, wie er meint. Und ebendieses Gefühl von Freiheit mit einem anerkannten ‚Verstoß‘ gegen gesellschaftliche Normen macht den Fasching/Karneval zu einer „Erholungsphase vom Kulturbürgertum“6, so Oelsner.
Damit das Freiheitsempfinden in vollen Zügen genossen und ausgeschöpft werden kann, wird auf eine passende Kostümierung zurückgegriffen, denn „[e]in Mensch, der sich verkleidet hat, kann sein oder ihr derart ‘eingekleidetes’ Verhalten immer der Rolle zuschreiben“7, wie der Psychologe Karl-Heinz Renner von der Universität der Bundeswehr München erklärt. Mit entsprechender Kostümierung distanziert man sich somit vom Alltags-Ich und nimmt eine andere Identität an. Damit können auch bestimmte Verhaltensweisen gerechtfertigt werden, die konträr zur Persönlichkeit stehen, jedoch ausprobiert werden möchten – schlussendlich spiegeln etwaige skurrile Handlungen ja eben nur das Kostüm und damit die Rolle wider, in welche man geschlüpft ist.8
Die Tradition des Verkleidens speziell am Faschingsdienstag geht auf den grundlegenden Wunsch zurück, eine Verwandlung durchzuführen, die im Normalfall unmöglich scheint, beispielsweise eine Transformierung in ein Tier oder in das jeweils andere Geschlecht.9 Es geht um eine „Verkehrung der Welt“10, wie die Kulturanthropologien von der TU Dortmund, Gudrun König, erklärt. Infolgedessen dient die Metamorphose auch dazu, für kurze Zeit hierarchische Ordnungsmuster wie ein Arbeitsverhältnis in den Hintergrund rücken zu lassen, denn wenn sich die Chefin als Clown verkleidet, während der Angestellte in ein Königskostüm schlüpft, werden auch gewollt alltägliche Gepflogenheiten im Sinne der Narrenfreiheit außer Kraft gesetzt.11
Und gemäß den Ausführungen intendiert das Verkleiden auch immer eine weitere Komponente – Kommunikation.
Das Kostüm sprechen lassen
Denn mit der Wahl der Faschingsverkleidung werden auch bewusst Kommunikationsprozesse in Gang gesetzt. Zunächst kommen Menschen durch die Kostüm-Anonymität vergleichsweise schneller miteinander ins Gespräch als im Alltag, womit auch einfacher neue Kontakte geknüpft werden können.12
Eine Verkleidung kann aber auch die verborgenen Bedürfnisse und Wünsche der Träger*in zum Ausdruck bringen und ermöglicht eine kurzfristige ‚Aneignung‘ bestimmter Merkmale, beispielsweise von Comic-Helden oder dem persönlichen Idol. Mittels einer Piratenverkleidung können anarchische Werte, mittels Cowboy-Kostüm die Sehnsucht nach Freiheit transportiert werden.13
Nicht zuletzt können mit Verkleidungen auch persönliche Werthaltungen und -vorstellungen kundgemacht werden, indem man beispielsweise eine Maske von realen Personen aufsetzt, die im öffentlichen Leben stehen, beispielsweise von Politiker*innen. Damit bringt die/der Träger*in entweder Sympathie zum Ausdruck oder äußert eine kritische Meinung auf nonverbaler Ebene.14
Die 5. Jahreszeit bringt aber vor allem Spaß mit sich
Diese beiden Aspekte – das Verkleiden an sich und das Einnehmen einer bestimmten Attitüde, um dem Kostüm schlussendlich auch Authentizität zu verleihen – hängen auch mit individuellen kreativen Prozessen zusammen: Wer sich Gedanken über das Kostüm macht, dieses dann zusammenstellt oder sogar selbst schneidert und schlussendlich ‚verkörpert‘, fördert die persönlichen schöpferischen Fähigkeiten und das eigene Vorstellungsvermögen. Doch das wohl wichtigste Argument für eine Verkleidung zum Faschingsdienstag ist folgendes: Es macht Spaß, sich zu verkleiden und in eine andere Rolle zu schlüpfen.15
Ob nun aus dem Grund, etwas Konträres als im Alltag darstellen zu wollen, in Kontakt mit anderen zu treten, eine Werthaltung zu präsentieren, oder wegen der allgemeinen Feierlichkeiten: Der Fasching und der dadurch oftmals ausgelöste Trubel im Generellen bieten vielerlei Möglichkeiten, sich selbst neu zu entdecken und auch auszuprobieren. Und schlussendlich tut das erlaubte Außerkraftsetzen von sozialen Normen mit gleichzeitig einhergehendem Freiheitsgefühl, sein zu können, wer man sein möchte, auch dem allgemeinen psychischen Wohlbefinden gut.
1 Lauscher, Nicole: Der Sinn im Unsinn. In: focus.de. Veröffentlicht am 15.11.2013.
URL: https://www.focus.de/gesundheit/ratgeber/psychologie/gesundepsyche/der-sinn-im-unsinn-karneval_id_1948411.html [Stand: 27.01.2022].
2 Vgl. Lauscher, Nicole: Der Sinn im Unsinn.
URL: https://www.focus.de/gesundheit/ratgeber/psychologie/gesundepsyche/der-sinn-im-unsinn-karneval_id_1948411.html [Stand: 27.01.2022].
3 Lauscher, Nicole: Der Sinn im Unsinn.
URL: https://www.focus.de/gesundheit/ratgeber/psychologie/gesundepsyche/der-sinn-im-unsinn-karneval_id_1948411.html [Stand: 27.01.2022].
4 Lauscher, Nicole: Der Sinn im Unsinn.
URL: https://www.focus.de/gesundheit/ratgeber/psychologie/gesundepsyche/der-sinn-im-unsinn-karneval_id_1948411.html [Stand: 27.01.2022].
5 Lauscher, Nicole: Der Sinn im Unsinn.
URL: https://www.focus.de/gesundheit/ratgeber/psychologie/gesundepsyche/der-sinn-im-unsinn-karneval_id_1948411.html [Stand: 27.01.2022].
6 Lauscher, Nicole: Der Sinn im Unsinn.
URL: https://www.focus.de/gesundheit/ratgeber/psychologie/gesundepsyche/der-sinn-im-unsinn-karneval_id_1948411.html [Stand: 27.01.2022].
7 NPO / Universität der Bundeswehr München, Hochschule Fresenius: Karneval: Warum verkleiden sich Menschen? In: wissen.de. Veröffentlicht am 04.03.2019.
URL: https://www.wissen.de/karneval-warum-verkleiden-sich-menschen [Stand: 27.01.2022].
8 Vgl. NPO / Universität der Bundeswehr München, Hochschule Fresenius: Karneval: Warum verkleiden sich Menschen?
URL: https://www.wissen.de/karneval-warum-verkleiden-sich-menschen [Stand: 27.01.2022].
9 Vgl. Fidler, Harald: Kulturwissenschafter Macho: „Faschingsfeiern sind nicht mehr so wichtig“. In: derstandard.at. Veröffentlicht am: 15.02.2021.
URL: https://www.derstandard.at/story/2000124144268/kulturwissenschafter-machofaschingsfeiern-sind-nicht-mehr-so-wichtig-sagt [Stand: 27.01.2022].
10 Keller, Maren: „Fasching stabilisiert die kulturelle Ordnung“. In: spiegel.de. Veröffentlicht am 23.02.2020.
URL: https://www.spiegel.de/stil/karneval-wer-bin-ich-und-wer-will-ich-sein-a-1c70ffc4-5cfc-4139-8f88-3e4badbd5dcf [Stand: 27.01.2022].
11 Vgl. Lauscher, Nicole: Der Sinn im Unsinn.
URL: https://www.focus.de/gesundheit/ratgeber/psychologie/gesundepsyche/der-sinn-im-unsinn-karneval_id_1948411.html [Stand: 27.01.2022].
12 Vgl. Braun, Maria: Was die Verkleidung über den Charakter verrät. In: welt.de. Veröffentlicht am 05.03.2011.
URL: https://www.welt.de/vermischtes/kurioses/article12686580/Was-die-Verkleidung-ueber-den-Charakter-verraet.html [Stand: 27.01.2022].
13 Vgl. NPO / Universität der Bundeswehr München, Hochschule Fresenius: Karneval: Warum verkleiden sich Menschen?
URL: https://www.wissen.de/karneval-warum-verkleiden-sich-menschen [Stand: 27.01.2022] und
vgl. Morawec, Barbara: Was die Faschingsverkleidung über uns verrät. In: sn.at. Veröffentlicht am 29.01.2020.
URL: https://www.sn.at/panorama/wissen/was-die-faschingsverkleidung-ueber-uns-verraet-24144571 [Stand: 27.01.2022].
14 Vgl. NPO / Universität der Bundeswehr München, Hochschule Fresenius: Karneval: Warum verkleiden sich Menschen?
URL: https://www.wissen.de/karneval-warum-verkleiden-sich-menschen [Stand: 27.01.2022].
15 Vgl. Majid, Anna: Warum sich Menschen verkleiden. In: sueddeutsche.de. Veröffentlicht am 01.03.2019.
URL: https://www.sueddeutsche.de/muenchen/fasching-warum-sich-menschen-verkleiden-1.4351025 [Stand: 27.01.2022].
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Veröffentlicht am: 23.02.2022