Wie nah geht mir das? Wie weit ist es von mir weg?

 

Psychisch krank sein oder psychisch krank werden in Zeiten von COVID-19 – Wie können wir unsere psychische Widerstandskraft stärken?

Wir befinden uns gerade in einer ungewöhnlichen und seltsamen Zeit voller Einschränkungen und Maßnahmen zur Eindämmung eines uns fast noch unbekannten Virus.

Schon seelisch stabilen Menschen fällt es dabei schwer, die aktuellen Herausforderungen unseres Alltags zu bewältigen; aber wie müssen sich erst all jene fühlen, die bereits vor der Krise psychisch krank waren? Laut einer repräsentativen Studie der Donau-Universität Krems1, die im Mai 2020 veröffentlicht wurde, habe sich die Häufigkeit depressiver Symptome in Österreich seit der Corona-Krise vervielfacht. Beispielweise seien Schlafstörungen und Angstsymptome dabei signifikant angestiegen. Besonders betroffen seien Personen unter 35 Jahren, und dabei vor allem Frauen, Singles und Menschen ohne Arbeit.2 Da die Arbeitslosigkeit oftmals eng mit psychischen Erkrankungen verknüpft ist, ist besonders letztere Gruppe dabei auch stark benachteiligt.

Betrachten wir die Situation der bereits Betroffenen noch ein wenig genauer: Bei depressiven Menschen kann die fehlende Alltagsroutinen zu einem noch stärkeren sozialen Rückzug und zum Verlust eines strukturierten Tages führen. Für Angstpatient*innen sind die fortwährenden Negativ-Schlagzeilen eine Einladung für Gedankenreisen; sie verspüren eine noch stärkere Traurigkeit oder sind gereizter als zuvor. Und Menschen mit Zwangserkrankungen fühlen sich durch die ständigen Aufforderungen zur Hygiene in ihren Wasch- oder Kontrollzwängen bestätigt und üben diese noch intensiver aus.3

Aber warum führt die Pandemie gerade jetzt zu einer Auseinandersetzung mit psychischen Erkrankungen? Weil die psychischen Belastungen und generell psychische Erkrankungen durch die Corona-Krise vor allem durch mediale Darstellungen mehr in den Vordergrund rücken, denn die Thematik an sich und der generelle Umgang mit Menschen mit psychischen Erkrankungen sind nach wie vor Tabuthemen. Dabei ist gerade jetzt diese Fokussierung auf Entstigmatisierung der Krankheit vonnöten, eine optimalere Versorgung, Betreuung und Behandlung von Betroffenen dringend notwendig. Und speziell bei psychischen Erkrankungen gibt es immer noch große Versorgungslücken und für viele Betroffene einen nicht leistbaren Zugang zu Unterstützung und Behandlung. Und diese Problemfelder scheinen durch die Krise endlich verstärkt aufgezeigt zu werden. Aber warum erst durch die Krise? Weil nun auch gesunde Menschen mit alltäglichen Einschränkungen, sozialem Rückzug, Waschzwängen etc. konfrontiert werden.

Sozialer Abstand, kaum noch Freunde treffen, nicht mehr in die Arbeit gehen zu können oder sogar die Arbeit zu verlieren, allen voran Ängste und Sorgen einer möglichen Infektion, gewohnte Freizeitaktivitäten nicht mehr so wie vorher ausüben zu können; dann die körperlichen Einschränkungen – Abstand halten zu Menschen, die man nach langer Zeit wieder trifft, mit denen man gerne redet und die man eigentlich gerne umarmen möchte… Es sind ja vor allem die Berührungen und Umarmungen, die dabei helfen, Stress abzubauen und unser Immunsystem zu stärken. Sozialer Abstand zu Verwandten, Freund*innen und Vertrauten zu halten, kann aber auch etwas Positives mit sich bringen: Wir können für uns selbst beispielsweise kreative Ideen entwickeln, mehr Zeit für uns und die Familie haben, weniger Termindruck verspüren und mehr Entschleunigung in den Alltag hineinbringen. Aber all die positiven Aspekte, die das „für sich sein“ auch beinhalten kann, wirken sich verstärkt negativ auf Menschen mit psychischen Erkrankungen aus, wie Psycholog*innen und Psychiater*innen beobachtet haben: Die soziale Isolation verstärkt die Krankheit der Betroffenen nämlich immens. Gerade psychisch erkrankte Menschen brauchen Berührungen und körperliche Nähe. Und wenn dann solche Berührungen als Sprache der Zuneigung wegfallen – was bleibt dann? Laut dem amerikanischen Paarberater Gary Chapmann, der den Begriff der „fünf Sprachen der Liebe“ geprägt hat, seien neben Berührungen auch „ehrliche Anerkennung und Äußerungen von Dankbarkeit“4 sowie „das Schenken von Zeit, kleine Geschenke und Hilfsbereitschaft“5 von großer Wichtigkeit. Nur müssen wir gemäß Chapmann auch wissen, für welche Sprache diese Menschen empfänglich seien, weil es hierbei große individuelle Unterschiede gebe.6

Dies kann somit nur bedeuten, dass vor allem Betroffene gerade jetzt mehr Aufmerksamkeit, Verständnis, Empathie und Zuneigung sowie vermehrt Unterstützung, Betreuung und professionelle Behandlung benötigen, um die andauernde Krise bewältigen zu können. Aber auch wir, die gesund sind, brauchen in COVID-19-Zeiten das Wissen, wie man Resilienz – die Fähigkeit, in schwierigen Situationen psychisch langanhaltend gesund zu bleiben – erlangt bzw. die eigene psychische Widerstandsfähigkeit stärkt und trainiert. Denn je länger die notwendigen Schutzmaßnahmen zur Eindämmung der Krankheit dauern, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass eben auch gesunde Menschen, die eventuell eine Zeitlang das Positive einer solchen Krise gesehen haben, irgendwann doch psychisch instabil werden und schlussendlich auch erkranken.7

Resilienz kann dabei durch einen gesundheitsorientierten Lebensstil mit guter Ernährung, ausreichend Bewegung und durch einen vernünftigen Umgang mit Stress nicht nur den Körper, sondern auch die Seele dauerhaft stärken.8 Die Einstellung zum Leben im Allgemeinen ist hierbei wichtig: Sich Ziele setzen, sich an Werten orientieren und sich in einem stabilen sozialen Netzwerk verankern. Auch anderen zu helfen, stärkt unsere eigene Widerstandskraft. Die psychische Energie, die wir anderen schenken, bekommen wir außerdem auch wieder zurück. Wichtig ist es auch, das Positive zu sehen und optimistisch zu bleiben, denn dies kann in einer schwierigen Lage helfen und als Chance begriffen werden. Die Hoffnung nicht aufgeben und nicht mit dem Schlimmsten rechnen – damit entsteht keine defensive Lebenseinstellung, sondern es ist sinnvoll, in Krisen aktiv zu bleiben und gut vorbereitet Herausforderungen anzunehmen.9

Resilienz hat also nichts mit emotionaler Härte oder Gefühlskälte zu tun – im Gegenteil: Flexibilität, Anpassungsfähigkeit und das empathische Miteinander sind Eigenschaften besonders resilienter Menschen.10

Versuchen auch wir, positiv zu bleiben, optimistisch in den Tag zu starten, und helfen wir jenen, die auf uns angewiesen sind. Stärken wir uns gegenseitig.

Auf eine schöne Zeit!

 


1 Vgl. Öffentliches Gesundheitsportal Österreichs: Psychischen Belastungen offen begegnen – Hilfe suchen! Veröffentlicht am 01.07.2020.
URL: https://www.gesundheit.gv.at/aktuelles/psychische-erkrankungen-boep-studie [Stand 24.09.2020].

2 Vgl. Öffentliches Gesundheitsportal Österreichs: Psychischen Belastungen offen begegnen – Hilfe suchen! Veröffentlicht am 01.07.2020.
URL: https://www.gesundheit.gv.at/aktuelles/psychische-erkrankungen-boep-studie [Stand 24.09.2020].

3 Vgl. Carthaus, Anna: Coronavirus und Psyche: “Ich könnt‘ auch einfach liegen bleiben“. Veröffentlicht am 26.03.2020.
URL: https://www.dw.com/de/coronavirus-und-psyche-ich-k%C3%B6nnt-auch-einfach-liegenbleiben/a-52924384 [Stand 24.09.2020].

4 Deutsche Presseagentur: Fehlende Nähe wegen Coronavirus: Macht soziale Isolation krank? Veröffentlicht am 28.05.2020.
URL: https://www.fitforfun.de/news/fehlende-naehe-wegen-coronavirus-macht-die-soziale-isolation-krank-429660.html [Stand 24.09.2020].

5 Deutsche Presseagentur: Fehlende Nähe wegen Coronavirus: Macht soziale Isolation krank? Veröffentlicht am 28.05.2020.
URL: https://www.fitforfun.de/news/fehlende-naehe-wegen-coronavirus-macht-die-soziale-isolation-krank-429660.html [Stand 24.09.2020].

6 Vgl. Deutsche Presseagentur: Fehlende Nähe wegen Coronavirus: Macht soziale Isolation krank? Veröffentlicht am 28.05.2020.
URL: https://www.fitforfun.de/news/fehlende-naehe-wegen-coronavirus-macht-die-soziale-isolation-krank-429660.html [Stand 24.09.2020].

7 Vgl. Hardegger, Elke: Was macht „Social Distancing” mit unserer Psyche? In: BR24. Veröffentlicht am 24.04.2020.
URL: https://www.br.de/nachrichten/wissen/was-macht-social-distancing-mit-unserer-psyche,Rx5159x [Stand: 24.09.2020].

8 Vgl. Kiesel, Holger: Was ist Resilienz? In: BR. Veröffentlicht am 21.03.2018.
URL: https://www.br.de/radio/bayern2/was-ist-resilienz-100.html [Stand: 24.09.2020].

9 Vgl. Kiesel, Holger: Wer ist besonders resilient? In: BR. Veröffentlicht am 21.03.2018.
URL: https://www.br.de/radio/bayern2/wer-ist-besonders-resilient-100.html [Stand: 24.09.2020].

10 Vgl. Kiesel, Holger: Was ist Resilienz? In: BR. Veröffentlicht am 21.03.2018.
URL: https://www.br.de/radio/bayern2/was-ist-resilienz-100.html [Stand: 24.09.2020].

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Veröffentlicht am: 28.10.2020