Wenn das Fass überläuft – das Vulnerabilitäts-Stress-Modell
Wie erklärt man die Entstehung einer psychischen Erkrankung? Das Vulnerabilitäts-Stress-Modell gibt Aufschluss darüber.
Hinter körperlichen Erkrankungen stecken Ursachen, die meistens auf bestimmte Aktionen/Ereignisse/Begebenheiten zurückzuführen und dann relativ leicht ermittelbar sind: So plagt uns beispielsweise ein grippaler Infekt, weil wir bei der Firmenveranstaltung mit mehreren Personen mit Erkältungssymptomen Kontakt hatten, oder wir leiden an Rückenschmerzen, weil wir uns mit dem Heben schwerer Gegenstände am Vortag übernommen haben. Aber wie verhält es sich mit psychischen Erkrankungen? Warum entwickeln die einen Depressionen, eine Angst- oder Zwangsstörung, andere aber nicht? Um diese Frage zu beantworten, wird insbesondere in der klinischen Psychologie das sogenannte Vulnerabilitäts-Stress-Modell (synonym auch Diathese-Stress-Modell) eingesetzt.
Anfälligkeit
„Das Modell versucht, Auskunft darüber zu geben, wie sehr man durch gewisse Rahmenbedingungen gefährdet ist, psychisch krank zu werden“, erklärt Philipp Landgraf, klinischer Psychologe und Leitung des teilzeitbetreuten Wohnens bei pro mente steiermark. Um die Entstehung einer psychischen Erkrankung gemäß dem Modell eruieren zu können, seien „zwei Faktoren ausschlaggebend, die in Kombination miteinander auftreten müssen“, sagt Landgraf.
Wunde + Stress = Krankheit
Zum einen wird mit dem Modell die Vulnerabilität abgebildet, die Verletzlichkeit (oder ‚Wunde‘) einer einzelnen Person.1 Sie umfasst die allgemeine Anfälligkeit, eine psychische Erkrankung zu entwickeln. Diese Anfälligkeit besteht bereits im Vorfeld, und zwar durch biografische Faktoren, biologische oder genetische Aspekte sowie durch soziale Komponenten.2 „Gibt es beispielsweise in der Familie bereits Vorerkrankungen, ist jemand von Armut oder Einsamkeit betroffen, fehlt sinnvolle Beschäftigung oder hat eine Person nur eingeschränkten Zugang zu Bildung und Gesundheit, erhöht jedes einzelne dieser Elemente die Vulnerabilität“, führt Landgraf an.
Fass-Metapher
Veranschaulicht wird diese theoretische Erläuterung des Modells mit einer Metapher, bei welcher ein Fass als Darstellung für die individuelle Verletzlichkeit (Vulnerabilität) angeführt wird. Jedes Fass, abhängig von der Person, fasst unterschiedlich viel Wasser und läuft demnach auch je nach individuellen Begebenheiten/Belastungen schneller bzw. langsamer über. So ist bei manchen Menschen der Fassboden höher, was anzeigt, dass das Fass weniger Wasser – also weniger Belastungen – aufnehmen kann, infolgedessen das Wasser schneller überläuft und damit eine höhere Gefahr für die Entwicklung einer psychischen Erkrankung besteht. Umgekehrt bedeutet dies, dass die Fässer anderer Personen wiederum über einen niedrigeren Boden verfügen, somit mehr Widerstand gegen Belastungen und Stressoren vorhanden ist, bevor das Wasser überläuft und demnach eine psychische Erkrankung entstehen kann.4 Diese Metapher verdeutlicht, dass insbesondere ein Aspekt wichtig ist, um zu verhindern, eine psychische Erkrankung zu entwickeln, nämlich die Resilienz, die eigene Widerstandsfähigkeit.
Ressourcenmobilisierung
Verfügt jemand über viele Ressourcen (sie stellen den Boden in der Fass-Metapher dar), die man im Falle eines Stressors oder im Zuge mehrerer Belastungen aktivieren kann, steigt die Widerstandsfähigkeit bzw. der Schutz vor psychischen Erkrankungen. Je mehr innere Ressourcen (beispielsweise ausreichend Schlaf, positive Erfahrungen, Selbstfürsorge oder ein hohes Selbstwertgefühl) und äußere (wie das soziale Netzwerk, Wohnraum oder Arbeitsplatzsicherheit) vorhanden sind, desto widerstandsfähiger agieren wir, wenn Belastungen auf uns einwirken.5
Praktische Anwendung des Vulnerabilitäts-Stress-Modells
Das Modell legt somit dar, dass Ressourcen notwendig sind, um die Resilienz zu erhöhen und somit einen ‚Überlaufschutz‘ einzurichten. Es gilt also, die individuelle Widerstandsfähigkeit zu stärken, um – mit der Metapher dargelegt – so mehr Wasser im Fass aufnehmen zu können. Zur Stärkung der Resilienz müssen die inneren und äußeren Ressourcen erweitert und schließlich aktiviert werden. Weil mehr Ressourcen das Risiko verringern, dass psychische Belastungen zu Erkrankungen führen, müssen wir uns um ständige Ressourcenerweiterung bemühen. „Deswegen impliziert das Modell auch Präventionsarbeit“, sagt Landgraf. „Zum einen steht die fortlaufende Stärkung der Resilienz im Vordergrund, zum anderen müssen Stressfaktoren ermittelt werden, damit rechtzeitig gegengesteuert werden kann“, erklärt er. Besteht bereits eine psychische Erkrankung, so wird die Vulnerabilität insbesondere mithilfe von Psychotherapie verringert, aber auch Medikamente und weitere psychosoziale Maßnahmen kommen zum Einsatz, um einen ‚Überlaufschutz‘ zu erreichen.6
Landgraf betont jedoch zusätzlich, „dass vorhandene Vulnerabilität und gleichzeitig einwirkende Stressoren nicht bedeuten, dass man zwangsläufig psychisch krank wird. Das Modell legt prinzipiell dar, was eine Erkrankung begünstigen kann, nicht aber, dass sie sich schlussendlich wirklich entwickeln wird“, so seine weiterführenden Erläuterungen. Somit ist das Vulnerabilitäts-Stress-Modell eine Erklärung dafür, wie eine psychische Erkrankung im Generellen entsteht – Vulnerabilität und Stressfaktoren –, aber nicht verbindlich dahin gehend, dass beide Faktoren – wenn diese tatsächlich gegeben sind – im Endeffekt dazu führen müssen, krank zu werden. Ebenso verhält es sich mit Erkältungen: Wird das Immunsystem laufend trainiert, beispielsweise durch ausreichend Schlaf, gesunde Ernährung und regelmäßige sportliche Betätigung, kann dieses besser mit Viren, die eine Erkältung auslösen, umgehen und sie bekämpfen. Wir könnten uns erkälten, aber dies muss nicht unausweichlich der Fall sein.
1 Vgl. Mediclin: Vulnerabilitäts-Stress-Modell. In: mediclin.de.
URL: https://www.mediclin.de/ratgeber-gesundheit/psyche-koerper/vulnerabilitaets-stress-modell/ [Stand: 18.12.2024].
2 Vgl. Dorsch. Lexikon der Psychologie: Vulnerabilitäts-Stress-Modell. In: dorsch.hogrefe.com.
URL: https://dorsch.hogrefe.com/stichwort/vulnerabilitaets-stress-modell [Stand: 18.12.2024].
3 Vgl. Kalus, Andreas: Diathese-Stress-Modell – einfach erklärt. In: praxistipps.focus.de. Veröffentlicht am 29.09.2020.
URL: https://praxistipps.focus.de/diathese-stress-modell-einfach-erklaert_124996 [Stand: 18.12.2024].
4 Vgl. Mauritz, Sebastian: Vulnerabilitäts-Stress-Modell. In: resilienz-akademie.com. veröffentlicht am 24.05.2019.
URL: https://www.resilienz-akademie.com/abc-der-resilienz/vulnerabilitaets-stress-modell/ [Stand: 18.12.2024].
5 Lesen Sie mehr zum Thema Ressourcen in unserem Blogbeitrag Gegenjede Widrigkeit – Ressourcen »» vom 15.11.2023.
6 Vgl. Mediclin: Vulnerabilitäts-Stress-Modell. URL: https://www.mediclin.de/ratgeber-gesundheit/psyche-koerper/vulnerabilitaets-stress-modell/ [Stand: 18.12.2024].
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Veröffentlicht am: 08.01.2025