Gefährlicher Druckabbau – Selbstverletzendes Verhalten

 

Sich selbst Wunden zuzufügen, ist insbesondere unter Jugendlichen stark verbreitet. Was oftmals fälschlicherweise als eine um Aufmerksamkeit heischende Tat interpretiert wird, hat vielfach andere Gründe, die der professionellen Hilfe bedürfen.

Individuelle Techniken und Methoden helfen uns dabei, mit Stress und verschiedensten überkochenden Emotionen bestmöglich umzugehen, sei es das Entspannungsbad am Abend, die sportliche Aktivität im Freien oder das Lesen eines Buches. Einige der stressbedingten Bewältigungsstrategien sind jedoch für Körper und Seele nicht zuträglich bis hin zu extrem schädlich (wie Alkoholkonsum als Stresslösemechanismus). Auch viele Jugendliche praktizieren diesbezüglich eine ‚entlastende‘ und gefährliche Methodik – sie verletzen sich selbst.

Der Körper als Feind

Die Begrifflichkeit des selbstverletzenden Verhaltens (kurz SVV)1 beschreibt „jede Art von absichtlicher, direkter Schädigung der Körperoberfläche“2, erklärt Paul Plener, Leiter der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Medizinischen Universität Wien/des AKH Wien. Sie tritt am häufigsten im Alter von 14 bis 17 Jahren auf und betrifft dabei ca. 20 bis 30 % aller Jugendlichen.3 Intendiert wird dabei in den meisten Fällen kein Suizid, weswegen auch von einem nicht-suizidalen Verhalten gesprochen wird. Häufig beenden Betroffene das selbstverletzende Verhalten zwar wieder,4 jedoch warnt Plener: „Langfristig und über die gesamte Lebensspanne betrachtet haben viele Forschungsgruppen aber schon festgestellt, dass selbstverletzendes Verhalten in der Jugend ein Risikofaktor für spätere Suizidversuche und Suizide darstellt“5. Was genau führt jedoch dazu, sich selbst verletzen zu wollen?

Ein Stresslöser-Ventil

„Viele Menschen vermuten, dass sich Betroffene verletzen, um Aufmerksamkeit zu bekommen“6, sagt Christian Schmahl, Ärztlicher Direktor der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapeutische Medizin am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim. In den meisten Fällen jedoch sehen Jugendliche in der Selbstverletzung eine Möglichkeit, Stress unter Kontrolle zu bringen und ihre Gefühle zu regulieren. Als konkrete Auslöser nennt der Wiener Kinderpsychiater Christian Kienbacher „vor allem Enttäuschung in Beziehungen, Kränkung und Zurückweisung, soziale Isolation, Scheitern im Selbstständigwerden, Aufnahme sexueller Beziehungen und ‚Ansteckung‘ durch eine Peer Group“7, aber auch Streit in der Familie, Mobbing sowie Traumata (ausgelöst beispielsweise durch Missbrauch oder Gewalt) sind Risikofaktoren für selbstverletzendes Verhalten.8 Somit stellt das selbstverletzende Verhalten nicht den Wunsch nach Aufmerksamkeit dar, sondern vor allem einen Hilferuf (infolge der eben angeführten Motive).9

Sich selbst zu verletzen, kann außerdem ein Symptom einer psychischen Erkrankung sein. Am häufigsten tritt selbstverletzendes Verhalten im Zuge einer Borderline-Persönlichkeitsstörung10 auf; mehr als 90 % der betroffenen Personen nutzen dabei die Selbstverletzung, um überbordende Emotionen regulieren zu können. Die Selbstverletzung dient hierbei als eine Art Ventil.11 Auch bei anderen psychischen Erkrankungen wie bei einer posttraumatischen Belastungsstörung12, bei Depressionen13, Essstörungen14 oder bei Abhängigkeitserkrankungen15 sowie bei Autismus16 kann Selbstverletzung als Krankheitssymptom auftreten.17

Zum Haareausreißen

Die ‚klassischen‘ und vielfach bekannten Methoden der Selbstverletzung stellen das Schneiden bzw. ‚Ritzen‘ in die Haut sowie das Verbrennen dieser (insbesondere mit Zigaretten) dar. Auch andere Arten wie das Ausreißen der Haare, das Beißen in diverse Körperstellen oder die Manipulation von Wunden sind im Zuge des selbstverletzenden Verhaltens verbreitet.18 All das ist aber nicht immer offensichtlich, denn Betroffene seien „sehr selbstfürsorglich, wenn es um das Verbinden und Versorgen der Wunden geht. Meist sind es erst die Narben, die die Umwelt aufmerksam machen“19, erklärt Plener. Weitere Hinweise für selbstverletzendes Verhalten sind unter anderem das Tragen von langärmeliger Kleidung im Sommer (womit Wunden/Narben verdeckt werden), das Ansammeln von Verbandsmaterial sowie von unüblichen Gegenständen wie Scherben in Kombination mit sozialem Rückzug (man schließt sich im Zimmer für längere Zeit ein).20

Therapeutische Maßnahmen

Auch wenn selbstverletzendes Verhalten mit zunehmendem Alter – wie erwähnt – häufig wieder beendet wird, ist es dennoch notwendig, Professionist*innen hinzuzuziehen, um der primären Ursache frühestmöglich auf den Grund zu gehen. Vor allem Psychotherapie – vorzugsweise kognitive Verhaltenstherapie – unterstützt dabei, das schädliche Verhalten abzulegen. Betroffene eignen sich mithilfe der Psychotherapeutin*des Psychotherapeuten praktische wie gedankliche Techniken an, die eine ‚gesunde‘ Auseinandersetzung mit den inneren akuten Anspannungszuständen ermöglichen. Darunter fallen auch die folgenden bekannten Methoden:21

  • Verspüren Betroffene eine innere Leere und Taubheit, empfehlen Expert*innen das Kauen von Chili, Peperoni oder Ingwerwurzel. Auch kaltes Wasser auf Armen und Gesicht oder das Riechen an Duftölen hilft dabei, akute Gefühle dieser Art zu reduzieren.
  • Fühlen sich Betroffene unruhig oder wütend, dann raten Expert*innen dazu, laute Musik zu hören und dazu zu tanzen, Sport zu treiben oder auf einen Boxsack/auf ein Kissen zu schlagen.
  • Tritt selbstverletzendes Verhalten im Zuge von depressiven Gefühlen oder Traurigkeit auf, steht Selbstfürsorge an erster Stelle: Ruhige Musik zu hören, gutes Essen zu verspeisen, sich schön anzukleiden oder sich mit Personen zu verabreden, die einem guttun, sind hierbei bewährte Methoden.
  • Im Allgemeinen helfen Achtsamkeits- und Entspannungsübungen dabei, selbstverletzendes Verhalten zu unterbinden, denn „Ziel ist es ja, gar nicht erst in diesen hohen Stresszustand zu kommen“22, sagt Plener.
  • Gefühle sollten nicht unterdrückt, sondern vielmehr bewusst wahrgenommen und akzeptiert werden. Sodann kann Selbstbestärkung dabei unterstützen, akute Anspannung zu überwinden. Auch darüber zu reden – mit Vertrauten, Freund*innen oder auch mit Ansprechpersonen von telefonischen Krisendiensten –, kann dabei helfen, den inneren Druck zu lindern.
  • Ausreichend Schlaf, gesunde Ernährung, das Vermeiden von Alkohol und Drogen unterstützen Ausgeglichenheit, ebenso eine kreative Auseinandersetzung mit überbordenden Emotionen zum Beispiel in Form von Mal- oder Schreibtätigkeiten.

Den Hilferuf hören

Und wie können Angehörige unterstützen? Wichtig ist es zunächst, dass selbstverletzendes Verhalten nicht ignoriert wird, sondern die betroffene Person direkt darauf angesprochen wird: „Viele Patienten sind dankbar für einen offenen Austausch und fühlen sich erleichtert, wenn sie über das Problem reden“23, erklärt Schmahl. Ein vertrauliches, einfühlsames Gespräch, bei welchem sich Zeit genommen wird, suggeriert, dass der betroffenen Person die notwendige Unterstützung zuteilwird. Und auch wenn es schwerfällt, so sollten Angehörige ruhig bleiben, nicht überreagieren, stattdessen respektvoll auf Betroffene zugehen, gegebenenfalls bei der Wundversorgung helfen und dazu motivieren, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen.24

Selbstverletzendes Verhalten intendiert gemäß den Ausführungen zwar primär keinen Suizid, dennoch können fehlende alternative Stressbewältigungsmechanismen bzw. unbehandelte psychische Erkrankungen mit ebendiesem Symptom das Risiko erhöhen, dass in späterer Folge nicht doch eine Suizidabsicht hinter der gewollten physischen Schädigung zum Vorschein kommt. Deswegen sollte schnellstens professionelle Hilfe hinzugezogen werden, um andere, nicht schädliche Techniken im Umgang mit Emotionen zu erlernen bzw. um psychische Erkrankungen zu diagnostizieren und behandeln zu können. Erst dann und „im besten Fall werden die Narben Teil einer gelungenen Bewältigung in der eigenen Biografie, ein sichtbarer Beweis dafür, dass man eine schwierige Phase erlebt und diese erfolgreich hinter sich gelassen hat“25, sagt Plener abschließend.

Unterstützende Institutionen, Einrichtungen und Krisendienste bei akutem Drang nach Selbstverletzung sind

Telefonseelsorge
Telefon: 142
kostenlose Beratung rund um die Uhr

PsyNot – Das psychiatrische Krisentelefon für die Steiermark
Telefon: 0800 44 99 33
kostenlose Beratung rund um die Uhr

KIT: Kriseninterventions-Team Steiermark für psychosoziale Akutberatung
Telefon: 130
bei akuten Krisen und Notfallsituationen
Erreichbarkeit rund um die Uhr und kostenlos

Frauen-Notruf
Telefon: +43 316 42 99 00
Erreichbarkeit rund um die Uhr

Männer-Notruf
Telefon: 0800 246 247
Erste Anlaufstelle für Männer in Krisen- und Gewaltsituationen
Erreichbarkeit rund um die Uhr

Ö3 Kummernummer
Telefon: 116 123
Erreichbarkeit täglich von 16:00 bis 24:00 Uhr und kostenlos

Chat-Beratung pro mente steiermark
Täglich von 17:00 bis 21 Uhr, kostenlos und anonym
Tägliche Live-Chat-Beratung von pro mente steiermark »»

 


1 Vgl. Oberberg Kliniken: Das Ich als Gegner. In: oberbergkliniken.de.
URL: https://www.oberbergkliniken.de/symptome/autoaggressionen [Stand: 23.10.2024].

2 Pollack, Karin: Jugendpsychiater: „Wenn ich das Ritzen aufgebe, wie komme ich klar?“. In: derstandard.at. Veröffentlicht am 18.06.2019.
URL: https://www.derstandard.at/story/2000104869397/jugendpsychiater-wenn-ich-das-ritzen-aufgebe-wie-komme-ich-klar [Stand: 23.10.2024].

3 Vgl. AOK Gesundheitsmagazin: Warum verletzen Menschen sich selbst? In: aok.de. Veröffentlicht am 15.03.2022.
URL: https://www.aok.de/pk/magazin/koerper-psyche/psychologie/selbstverletzung-was-steckt-dahinter/ [Stand: 23.10.2024].

4 Vgl. Pollack, Karin: Jugendpsychiater: „Wenn ich das Ritzen aufgebe, wie komme ich klar?“.
URL: https://www.derstandard.at/story/2000104869397/jugendpsychiater-wenn-ich-das-ritzen-aufgebe-wie-komme-ich-klar [Stand: 23.10.2024].

5 Pollack, Karin: Jugendpsychiater: „Wenn ich das Ritzen aufgebe, wie komme ich klar?“.
URL: https://www.derstandard.at/story/2000104869397/jugendpsychiater-wenn-ich-das-ritzen-aufgebe-wie-komme-ich-klar [Stand: 23.10.2024].

6 AOK Gesundheitsmagazin: Warum verletzen Menschen sich selbst?
URL: https://www.aok.de/pk/magazin/koerper-psyche/psychologie/selbstverletzung-was-steckt-dahinter/ [Stand: 23.10.2024].

7 APA: Warum Menschen sich selbst verletzen. In: derstandard.at. Veröffentlicht am 30.05.2018.
URL: https://www.derstandard.at/story/2000080678678/warum-menschen-sich-selbst-verletzen [Stand: 23.10.2024].

8 Vgl. Pollack, Karin: Jugendpsychiater: „Wenn ich das Ritzen aufgebe, wie komme ich klar?“.
URL: https://www.derstandard.at/story/2000104869397/jugendpsychiater-wenn-ich-das-ritzen-aufgebe-wie-komme-ich-klar [Stand: 23.10.2024] und
vgl. Oberberg Kliniken: Das Ich als Gegner.
URL: https://www.oberbergkliniken.de/symptome/autoaggressionen [Stand: 23.10.2024]

9 Vgl. Westpfalz-Klinikum: Selbstverletzendes Verhalten. In: westpfalz-klinikum.de.
URL: https://www.westpfalz-klinikum.de/psyso/hilfen/tipps-und-strategien/selbstverletzendes-verhalten [Stand: 23.10.2024].

10 Lesen Sie mehr über die Borderline-Persönlichkeitsstörung in unserem Blogbeitrag Endloser Gefühlssturm – die Borderline-Persönlichkeitsstörung »» vom 25.10.2023.

11 Vgl. AOK Gesundheitsmagazin: Warum verletzen Menschen sich selbst?
URL: https://www.aok.de/pk/magazin/koerper-psyche/psychologie/selbstverletzung-was-steckt-dahinter/ [Stand: 23.10.2024].

12 Wodurch sich dieses Krankheitsbild kennzeichnet, lesen Sie in unserem Blogbeitrag Vom Trauma zur psychischen Erkrankung – die posttraumatische Belastungsstörung »» vom 13.07.2022.

13 Mehr über das Krankheitsbild der Depression lesen Sie in unserem Blogbeitrag Der Fall in ein Tiefes Loch – Depression »» vom 03.07.2024.

14 Im Blogbeitrag Von Magersucht bis Binge Eating – die komplexen Gesichter von Essstörungen »» gehen wir ausführlicher auf dieses Krankheitsbild ein.

15 Risikofaktoren für die Entwicklung von Abhängigkeitserkrankungen finden Sie in unserem Blogbeitrag Wenn es nicht mehr ohne geht – Sucht und ihre vielen Gesichter »» vom 14.04.2021.

16 Die Autismus-Spektrum-Störung behandeln wir ausführlicher in unserem Blogbeitrag Eine etwas andere Wesensart – die Autismus-Spektrum-Störung »» vom 27.10.2021.

17 Vgl. Westpfalz-Klinikum: Selbstverletzendes Verhalten.
URL: https://www.westpfalz-klinikum.de/psyso/hilfen/tipps-und-strategien/selbstverletzendes-verhalten [Stand: 23.10.2024] und
vgl. Moutier, Christine: Nicht-suizidale Selbstverletzung (NSSV). In: msdmanuals.com. Aktualisiert im Juli 2023.
URL: https://www.msdmanuals.com/de/profi/psychiatrische-erkrankungen/suizidales-verhalten-und-selbstverletzung/nicht-suizidale-selbstverletzung-nssv [Stand: 23.10.2024].

18 Vgl. Oberberg Kliniken: Das Ich als Gegner.
URL: https://www.oberbergkliniken.de/symptome/autoaggressionen [Stand: 23.10.2024].

19 Pollack, Karin: Jugendpsychiater: „Wenn ich das Ritzen aufgebe, wie komme ich klar?“.
URL: https://www.derstandard.at/story/2000104869397/jugendpsychiater-wenn-ich-das-ritzen-aufgebe-wie-komme-ich-klar [Stand: 23.10.2024].

20 Vgl. Oberberg Kliniken: Das Ich als Gegner.
URL: https://www.oberbergkliniken.de/symptome/autoaggressionen [Stand: 23.10.2024] und
vgl. AOK Gesundheitsmagazin: Warum verletzen Menschen sich selbst?
URL: https://www.aok.de/pk/magazin/koerper-psyche/psychologie/selbstverletzung-was-steckt-dahinter/ [Stand: 23.10.2024].

21 Vgl. Westpfalz-Klinikum: Selbstverletzendes Verhalten.
URL: https://www.westpfalz-klinikum.de/psyso/hilfen/tipps-und-strategien/selbstverletzendes-verhalten [Stand: 23.10.2024].

22 Pollack, Karin: Jugendpsychiater: „Wenn ich das Ritzen aufgebe, wie komme ich klar?“.
URL: https://www.derstandard.at/story/2000104869397/jugendpsychiater-wenn-ich-das-ritzen-aufgebe-wie-komme-ich-klar [Stand: 23.10.2024].

23 AOK Gesundheitsmagazin: Warum verletzen Menschen sich selbst?
URL: https://www.aok.de/pk/magazin/koerper-psyche/psychologie/selbstverletzung-was-steckt-dahinter/ [Stand: 23.10.2024].

24 Vgl. Westpfalz-Klinikum: Selbstverletzendes Verhalten.
URL: https://www.westpfalz-klinikum.de/psyso/hilfen/tipps-und-strategien/selbstverletzendes-verhalten [Stand: 23.10.2024].

25 Pollack, Karin: Jugendpsychiater: „Wenn ich das Ritzen aufgebe, wie komme ich klar?“.
URL: https://www.derstandard.at/story/2000104869397/jugendpsychiater-wenn-ich-das-ritzen-aufgebe-wie-komme-ich-klar [Stand: 23.10.2024].

Bildhinweis: Adobe Stock

Veröffentlicht am: 30.10.2024