Kontrollierter Genuss
Während die einen immer wieder Probleme damit haben, langfristige Ziele zu erreichen, legen andere wiederum eine scheinbar mühelose Selbstkontrolle an den Tag – und das auch noch mit Vorteilen für die körperliche und psychische Gesundheit. Doch lässt sich Selbstdisziplin wirklich trainieren?
Die Fastenzeit neigt sich langsam dem Ende zu und viele von uns sehnen dieses nach 40 Tagen des Verzichts schon sehnsüchtig herbei. Keinen Alkohol trinken, keine Süßigkeiten oder kein Fleisch essen – vermieden wird in dieser Zeit all jenes, was wir im Alltag nicht ausklammern wollen. Und umso größer ist sodann die Freude, wenn wir wirklich über diese knapp anderthalb Monate hinweg standhaft geblieben sind und den Versuchungen widerstanden haben. Das psychologische Konzept, das hier ansatzweise zum Tragen kommt, ist jenes der Selbstdisziplin.
Angewandt auf bestimmte Lebensbereiche und über einen sehr langen Zeitraum hinweg werden selbstdisziplinierte Menschen jedoch mit Skepsis betrachtet, wird ihnen immerhin nachgesagt, dass sie sich jeden Spaß verweigern und vor allem unglücklich und unzufrieden sind, da sie sich dem (Lebens-)Genuss entziehen. Doch Forschungen bestätigen das genaue Gegenteil, nämlich dass „Menschen mit einer guten Fähigkeit, sich selbst zu kontrollieren, im Allgemeinen glücklicher und gesünder sind, bessere Beziehungen, weniger Stress und trotzdem mehr Geld als andere haben“1, erklärt die US-Psychologin Kathleen Vohs. Dies liegt daran, dass willensstarke Menschen auf langfristige Ziele hinarbeiten anstatt alltäglichen, kurzfristigen Belohnungen nachzugeben, wodurch sie Verführungen auch eher standhalten.2
Menschen mit ausgeprägter Selbstdisziplin verfügen gemäß Studien über mehr positive Gefühle und sind im Allgemeinen zufriedener, wenn Bedürfnisse aufgeschoben werden können, um ein übergeordnetes Ziel zu erreichen. Umgekehrt konnte ebenso festgestellt werden, dass mangelnde Selbstdisziplin negativen Einfluss auf die Ernährung nimmt und mit Bewegungsmangel in Verbindung gebracht werden kann, außerdem schulische Leistungen darunter leiden und es ebenso häufiger zum Drogenmissbrauch und zu straffälligem Verhalten kommt.3
Schwankende Willenskraft
Demnach bringt ein gewisses Maß an Selbstkontrolle ausschließlich Vorteile für die körperliche und psychische Gesundheit sowie auch den Lebenswandel betreffend mit sich. Doch Vohs merkt an: „Selbstkontrolle ist ein limitiertes Gut“4. Werden zu viele spontane Bedürfnisse wie beispielsweise das Verlangen nach einem Stück Kuchen und gleichzeitig nach einem gemütlichen Abend auf der Couch anstatt der Jogging-Runde unterdrückt, neigen Menschen sodann eher zu einem impulsiven, unkontrollierten Verhalten mit einhergehendem Verlust der Willensstärke.5 Roy Baumeister, Professor für Sozialpsychologie an der Florida State Universität, fasst zusammen: „Die Fähigkeit, sein Verlangen zu kontrollieren, nimmt also ab, je öfter man sich kontrolliert“6. Dies sei nämlich „fast wie bei einem Muskel, der nach zu hoher Belastung nicht mehr richtig funktioniert“7, so Vohs.
Die Schattenseiten der Selbstdisziplin
Neben einem (kurzfristigen) Verlust der Impulskontrolle warnen Wissenschaftler*innen insbesondere davor, das Leben zu viel kontrollieren zu wollen, denn dies sei „ebenso unbefriedigend wie ein unkontrolliertes“8, sagt der Psychologe und Willenskraftforscher Walter Mischel. Gönnt man sich beispielsweise trotz eines Sparvorhabens nicht das ein oder andere teurere Event oder verzichtet man aus Gründen der Vernunft auf jede Feier, werden diese Entscheidungen, die auf Selbstdisziplin basieren, später auch bereut, wie Untersuchungen zeigen. Wichtig ist es demnach, zwar selbstdiszipliniert an Zielen zu arbeiten, jedoch nicht zu sehr auf die Zukunft fokussiert zu sein. Dadurch bleiben Abenteuer, Genüsse und Ereignisse im Jetzt nämlich auf der Strecke.9
Selbstdisziplin steigern – Ziele richtig setzen
Deutlich wird, dass ein gewisses Maß an Selbstdisziplin vonnöten ist, um Ziele zu erreichen, woran auch ein Nachgeben von kurzfristigen Bedürfnissen nichts ändert. Aber kann Willensstärke trainiert werden? Ja, sagen Forscher*innen, denn „Selbstkontrolle lässt sich bis zu einem gewissen Grad steigern“10, erläutert Wilhelm Hofman von der University of Chicago. Und dieses Vorhaben beginnt bereits bei der Formulierung der Ziele, die erreicht werden wollen: „Viele nehmen sich zum Beispiel vor, »öfter mal Sport zu treiben«. Aber wenn der Plan vage bleibt, setzt man ihn nicht langfristig um“11, sagt Mischel. Es gilt also zunächst, mittels geeigneter Methoden genaue Vorstellungen vom Erreichen des Ziels zu bekommen.12 Außerdem müssen Ziele „persönlich wert- und sinnvoll“13 sein sowie „den eigenen Werten“14 entsprechen, ergänzt der Psychologe Michail Kokkoris von der Wirtschaftsuniversität Wien. Selbstdisziplinierte Menschen würden sich nämlich „keine Ziele von außen aufoktroyieren“15 lassen, erklärt er.
Ein Schubs in die richtige Richtung
Daneben wird auch das sogenannte Self-Nudging als geeignete Methode für mehr Selbstdisziplin genannt: Will man den Alltag disziplinierter gestalten bzw. die Ziele mit mehr Durchhaltevermögen verfolgen, sollte man demgemäß die unmittelbare Umgebung entsprechend verändern, um nicht in Versuchung zu geraten – womit man sich praktisch selbst austrickst. „Wir alle haben in unseren Köpfen und Körpern verschiedene Bedürfnisse und Wünsche, die ständig miteinander in Verhandlung treten“16, so der an der Universität Helsinki tätige Philosoph Samuli Reijula. „Self-Nudging kann dabei helfen, bewusster mit diesen inneren Verhandlungsprozessen umzugehen“. Doch wie lässt sich Self-Nudging beispielhaft für gesündere Ernährung im Alltag anwenden?
- Strategische Platzierung von Erinnerungen
So können Fotos von gesunden Lebensmitteln in der Wohnung – auf dem Kühlschrank oder in der Küche im Generellen genauso wie am Couchtisch – dazu anregen, eher zum Apfel als zur Schokolade zu greifen, weil man so an das Ziel erinnert wird. - Framing
Das Vorhaben, sich gesünder ernähren zu wollen, wird in einen anderen, positiven Rahmen eingebettet, indem man beispielsweise die langfristigen Vorteile betrachtet – gesündere Ernährung begünstigt körperliches und psychisches Wohlbefinden. - Zugänglichkeit einschränken
Schokolade und Süßigkeiten sollten im Gegensatz zu gesunden Lebensmitteln demnach in der Wohnung oder am Arbeitsplatz nicht immer verfügbar sein, sodass man erst gar nicht die Möglichkeit hat, sich ungesund zu ernähren. - Verpflichtungen eingehen
Indem man anderen vom Vorhaben erzählt, entsteht ein gewisser Druck, dieses auch umsetzen zu wollen. Man will schließlich vor Freund*innen nur ungern zugeben, dass man mit gesunden Ernährungsweisen schnell wieder gebrochen hat.
Willensstärke zu beweisen, ist notwendig, wenn langfristige Ziele verfolgt und erfolgreich umgesetzt werden möchten, aber vor allem unterstützt ein gewisses Maß an Selbstdisziplin die körperliche und psychische Gesundheit. Dabei darf jedoch nicht darauf vergessen werden, dem einen oder anderen Impuls nachzugeben, denn ansonsten geraten auch große Zielsetzungen ins Wanken – und in weiterer Folge das eigene Wohlbefinden. Es gilt demnach, eine ausgewogene Balance zwischen Selbstdisziplin und Bedürfnisbefriedigung zu finden, um dauerhaft zufrieden zu sein und von den positiven Aspekten eines kontrollierten Genusses vollends zu profitieren.
1 Brodmerkel, Anke: Wie sich Selbstkontrolle trainieren lässt. In: berliner-zeitung.de. Veröffentlicht am 27.10.2014.
URL: https://www.berliner-zeitung.de/archiv/interview-wie-sich-selbstkontrolle-trainieren-laesst-li.560488 [Stand: 20.02.2024].
2 Vgl. Freuler, Regula: Mehr Sport und weniger Süsses? Passt nicht zu meinem wahren Selbst. In: nzz.ch. Veröffentlicht am 19.01.2019.
URL: https://www.nzz.ch/wissenschaft/psychologie-warum-hohe-selbstkontrolle-erfolgreich-macht-ld.1796121 [Stand: 20.02.2024] und
vgl. Dohle, Simone / Hofmann, Wilhelm: Schlaue Selbstkontrolle. In: spektrum.de. Veröffentlicht am 05.02.2019.
URL: https://www.spektrum.de/magazin/gesund-leben-durch-schlaue-selbstkontrolle/1617994 [Stand: 20.02.2024].
3 Vgl. Hauschild, Jana: Selbstkontrolle macht Menschen glücklich. In: spiegel.de. Veröffentlicht am 03.07.2013.
URL: https://www.spiegel.de/gesundheit/psychologie/psychologiestudie-selbstdisziplinierte-menschen-sind-zufriedener-a-909139.html [Stand: 20.02.2024] und
vgl. Dohle, Simone / Hofmann, Wilhelm: Schlaue Selbstkontrolle.
URL: https://www.spektrum.de/magazin/gesund-leben-durch-schlaue-selbstkontrolle/1617994 [Stand: 20.02.2024].
4 Brodmerkel, Anke: Wie sich Selbstkontrolle trainieren lässt.
URL: https://www.berliner-zeitung.de/archiv/interview-wie-sich-selbstkontrolle-trainieren-laesst-li.560488 [Stand: 20.02.2024].
5 Vgl. Jiménez, Fanny: Warum ständige Selbstkontrolle impulsiver macht. In: welt.de. Veröffentlicht am 15.09.2014.
URL: https://www.welt.de/gesundheit/psychologie/article132259463/Warum-staendige-Selbstkontrolle-impulsiver-macht.html [Stand: 20.02.2024].
6 Jiménez, Fanny: Warum ständige Selbstkontrolle impulsiver macht.
URL: https://www.welt.de/gesundheit/psychologie/article132259463/Warum-staendige-Selbstkontrolle-impulsiver-macht.html [Stand: 20.02.2024].
7 Brodmerkel, Anke: Wie sich Selbstkontrolle trainieren lässt.
URL: https://www.berliner-zeitung.de/archiv/interview-wie-sich-selbstkontrolle-trainieren-laesst-li.560488 [Stand: 20.02.2024].
8 Jötten, Frederik: »Selbstkontrolle kann man lernen«. In: spektrum.de. Veröffentlicht am 12.10.2015.
URL: https://www.spektrum.de/news/selbstkontrolle-kann-man-lernen/1370046 [Stand: 20.02.2024].
9 Vgl. Luerweg, Frank: Wenn Disziplin unglücklich macht. In: psychologie-heute.de. Veröffentlicht am 11.09.2019.
URL: https://www.psychologie-heute.de/gesundheit/artikel-detailansicht/40071-wenn-disziplin-ungluecklich-macht.html [Stand: 20.02.2024].
10 Hauschild, Jana: Selbstkontrolle macht Menschen glücklich. In: spiegel.de. Veröffentlicht am 03.07.2013.
URL: https://www.spiegel.de/gesundheit/psychologie/psychologiestudie-selbstdisziplinierte-menschen-sind-zufriedener-a-909139.html [Stand: 20.02.2024].
11 Jötten, Frederik: »Selbstkontrolle kann man lernen«.
URL: https://www.spektrum.de/news/selbstkontrolle-kann-man-lernen/1370046 [Stand: 20.02.2024].
12 In unserem Blogbeitrag Der Weg ist das Ziel »» vom 27.09.2023 erfahren Sie mehr über unterstützende Techniken und Methoden zur Zielerreichung.
13 red / APA: Menschen mit Disziplin wählen Ziele, die zum eigenen Selbstbild passen. In: derstandard.at. Veröffentlicht am 11.01.2019.
URL: https://www.derstandard.at/story/2000095972016/menschen-mit-disziplin-waehlen-ziele-die-zum-eigenen-selbstbild-passen [Stand: 20.02.2024].
14 red / APA: Menschen mit Disziplin wählen Ziele, die zum eigenen Selbstbild passen.
URL: https://www.derstandard.at/story/2000095972016/menschen-mit-disziplin-waehlen-ziele-die-zum-eigenen-selbstbild-passen [Stand: 20.02.2024].
15 red / APA: Menschen mit Disziplin wählen Ziele, die zum eigenen Selbstbild passen.
URL: https://www.derstandard.at/story/2000095972016/menschen-mit-disziplin-waehlen-ziele-die-zum-eigenen-selbstbild-passen [Stand: 20.02.2024].
16 Max-Planck-Institut für Bildungsforschung: Mit Self-Nudging gegen den inneren Schweinehund. In: mpg.de. Veröffentlicht am 11.05.2020.
URL: https://www.mpib-berlin.mpg.de/pressemeldungen/mit-self-nudging-gegen-den-inneren-schweinehund [Stand: 20.02.2024].
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Veröffentlicht am: 20.03.2024